Название: Im Januar trug Natasha Rot
Автор: Manfred Eisner
Издательство: Автор
Жанр: Триллеры
isbn: 9783960085959
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Als sie das Handy nach dem Gespräch wieder weglegt, sieht sie Melanie besorgt an. „Keine Spur von Thomas, auch die Eltern sind sehr beunruhigt und haben schon überall herumtelefoniert. Sie haben inzwischen mit deinem Vater gesprochen. Es scheint, Thomas ist wie vom Erdboden verschwunden.“ Dann klingelt ihr Handy und sie nimmt Waldis Anruf entgegen.
„Hallo, meine liebe Schnuggelfrau, ist’s noch okay, wenn ich vorbeischaue?“
„Sicher, Waldi, komm schnell. Melanie ist bei mir, sie scheint ein Problem zu haben.“
Eine halbe Stunde später sitzen die drei zusammen bei Georgios Taverna Sirtaki, ihrem Griechen um die Ecke. „Also, Mädels, heute bitte, bitte keinerlei Beschränkungen bei der Bestellung“, kündigt Waldi an. „Ihr seid selbstverständlich Gäste des frischgebackenen Ersten Kriminalhauptkommissars Mohr!“
„Auf dich, lieber Waldi, und herzlichen Glückwunsch zum Aufstieg!“, zwitschert Melanie.
Nili erhebt sich, geht um den Tisch herum, zieht Waldi am Revers seines Sakkos hoch und die beiden geben sich einen langen – einen sehr langen – Kuss. „Alles, alles Gute, mein Liebster!“, flüstert sie ihm ins Ohr. Dann holt sie ein kleines Päckchen aus der Tasche und überreicht es ihm. Neugierig öffnet er es und ist begeistert von der hübsch ziselierten, silbernen Krawattenklammer mit dem Relief der beiden Llamatiere. „Ich habe sie in La Paz für dich gekauft, Waldi, und heute ist wohl die richtige Gelegenheit, um sie dir zu überreichen. Der Juwelier schwor mir, er habe sie aus einem von ihm selbst aus Spanien zurückgekauften Barren jenes Silbers gefertigt, das ehemals die von den spanischen Conquistadores gepeinigten Indios mit bloßen Händen aus dem ‚Reichen Berg‘ in Potosí herausgekratzt hatten. Trage sie mit Gesundheit, Waldi!“
Dieser erwidert sehr gerührt: „Und wie antworten die alten Juden auf diesen guten Wunsch? ‚Und du sollst auch gesund und sehr lange leben, um es mit mir zu genießen.‘“
„Wo hast du das nun wieder her?“, fragt Melanie. „Es klingt wunderschön.“
„Eine lange Geschichte“, antwortet Waldi. „Ende 1944 kamen die beiden Familien meiner damals gerade fünf- und zweijährigen Eltern mit einem Flüchtlingstreck aus Oberschlesien nach Schleswig-Holstein und wurden hier, zusammen mit einigen anderen Aussiedlern, auf einem größeren Bauernhof untergebracht. Erst nach der Kapitulation bekam man zu wissen, dass einer der Hofbewohner, den sie nur ‚Jupp‘ nannten, weil er aus Köln stammte, ein bei diesem Bauern versteckter Jude gewesen war. Als die Flüchtlinge auf den Hof gekommen waren, konnte er endlich unentdeckt auftauchen, niemand fragte jetzt noch danach. Seine ganze Familie war nach und nach in verschiedene KZs gesteckt worden und dort umgekommen, nur er hatte überlebt. Er kannte den Bauern, weil er und die Seinen vor der Machtergreifung der Nazis hier alljährlich ihre Sommerferien verbracht hatten. Als Jupp, mit eigentlichem Namen Josef Manasse, im Jahr 1941 über Nacht hierher flüchten konnte, nahm ihn der Bauer auf und versteckte ihn während der verbliebenen Nazizeit auf dem Heuboden in der Scheune. Meine Eltern zogen danach nach Kiel, wo sie aufwuchsen und später heirateten. Auch ich wurde hier geboren. Mein Opa erzählte mir mehrmals die Geschichte von Jupp. Opa und seine Familie hatten nur sehr wenig Kleidung aus Oberschlesien mitgebracht, denn während eines Fliegerangriffs der Russen war einer ihrer Treckwagen getroffen worden und verloren gegangen. Er besaß deswegen nur die Kleidung, die er gerade trug. Eines Tages erschien Jupp und schenkte ihm Hemd, Stiefel, eine Hose und eine warme Jacke. Weiß der Teufel, woher er sie hatte, jedenfalls war Opa ihm sehr dankbar. Jupp bemerkte nur, wie eben Nili: ‚Du sollst sie mit Gesundheit tragen.‘ Etwas später – Opa war Sattler, fand rasch Arbeit und verdiente sein Brot im benachbarten Dorf – revanchierte er sich bei Jupp und schenkte ihm neue Kleidung. Als Jupp ihm um den Hals fiel und sich bedankte, erinnerte sich Opa an damals und wiederholte seinen Satz: ‚Du sollst sie mit Gesundheit tragen.‘ Jupps Antwort war eben: ‚Und du sollst auch gesund und sehr lange leben, um es mit mir zu genießen!‘“
Als Georgios ihnen die Karaffe mit dem köstlichen roten Kamares, den Korb mit dem gegrilltem Skordropsomo – Knobibrot – und ein Schälchen Tsatsiki an den Tisch bringt, füllt Waldi die Gläser und sie prosten sich mit dem hier angebrachten „Yamas“ zu. „Was muss heute unbedingt weg, Georgios?“, fragt Melanie mit einem Lächeln.
Der antwortet: „Meine Frau Marita kann für euch unsere spezielle Piatella Syrtaki vorbereiten.“
„Erzähl, Georgios, was kommt da alles auf uns zu?“
„Also, da wären Lammkoteletts, gebratene Putenleber, Suvlaki, knuspriges Gyros und Souzuki, dazu Tomatenreis, Tsatsiki und Bauernsalat.“
„Mann, das ist ja viel zu üppig“, stöhnt Nili.
„Ich mach euch nur zwei Portionen, die teilt ihr drei euch dann, endaksie?“
„Warum müsst ihr Griechen immer im Taxi herumfahren?“, kolportiert Waldi grinsend.
„Dummkopf!“, witzelt Nili. „Das heißt ‚in Ordnung‘ auf Griechisch. Stimmt’s, Georgios?“
„Ne!“, antwortet dieser wieder grinsend.
„Wieso nicht?“, fragt Nili pikiert.
„Weil auf Griechisch ‚ne‘ wiederum ‚ja‘ bedeutet!“, triumphiert Waldi.
Während sie sich die schmackhaften Zutaten des Haustellers schmecken lassen, fragt Waldi: „Also nun mal im Ernst. Wo drückt der Schuh, Melanie?“
Abwechselnd erzählen Melanie und Nili von Thomas Greve, seinem Melanie gegenüber geäußerten Verdacht – allerdings ohne Erwähnung des betroffenen Firmennamens – und seinem plötzlichen und eigenartigen Verschwinden. Waldi hört geduldig zu. Dann folgt eine kurze Stille.
Nachdem sie aufgegessen haben, fragt Waldi plötzlich: „Melanie, weißt du, wo dieser Thomas wohnt?“
„Also nicht auswendig, aber wir haben natürlich seine Anschrift im Büro.“
„Was haltet ihr davon, wenn wir mal hinfahren, um zu sehen, ob wir Näheres erfahren?“
Nachdem Waldi die Rechnung beglichen hat, steigen sie in seinen Passat und fahren zuerst in die Steuerkanzlei. Melanie kommt bald mit der Adresse wieder. „Es ist in der Hofstraße, in Gaarden Süd. Er hat eine Wohnung im ersten Stock.“
Obwohl der Stadtteil nicht den besten Ruf genießt, ist es in der Hofstraße auffallend ruhig, als sie vor dem hellen Klinkergebäude ankommen. Waldi findet eine Parklücke und sie steigen aus. An der Klingeltafel werden sie sofort fündig: „T. Greve“. Niemand reagiert auf das wiederholte Läuten. Sie haben Glück, weil gerade eine ältere Frau mit ihrem kleinen Pudel aus der Haustür kommt. Sie blickt das Trio misstrauisch an, als sie das Gebäude betreten wollen, ist aber beruhigt, als Nili ihren Ausweis zeigt. „Zu wem wollen Sie?“, fragt sie neugierig.
„Ist alles in Ordnung, liebe Frau, gehen Sie nur ruhig spazieren. Guten Abend!“, entgegnet Waldi kurz angebunden.
Sie gehen die Treppe hinauf in den ersten Stock. Nili, die als Erste da ist, stutzt, weil sie, gerade als sie an die Wohnungstür klopfen will, bemerkt, dass diese nur angelehnt ist. Mit fragendem Blick wendet sie sich an Waldi, der bereits das Einbruchsdezernat auf seinem Handy herbeiruft. „Warten oder hineingehen?“, fragt sie.
„Besser nicht hineingehen. Wir warten lieber, bis die KTU die Spuren gesichert hat.“
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