Название: Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe
Автор: Levin Schücking
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075838650
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»Weshalb denn, Schilling?« fragte der Vogt.
»Er hat dem Beer-Isaak den Wechsel abgekauft, den Sie dem Juden im vorigen Jahre unterschrieben haben.«
Der Vogt seufzte und trank seine Tasse aus.
»Will Er eine Tasse mittrinken, Schilling?« fragte er dann.
»Danke, ich bin fertig«, versetzte der Amtsdiener, sich auf den Stuhl setzend, den Hubert verlassen hatte, und eine kurze Pfeife hervorziehend, die er sofort, ohne sich durch die Gegenwart seines Vorgesetzten beirren zu lassen, durch eine aus dem Ofen geholte Kohle in Brand setzte.
»Was machen wir aber nun?« fragte der Vogt nach einer stummen Pause.
»Mit dem Reinerz?«
»Mit der Marie!«
Schilling gab keine Antwort. Er setzte seine Füße auf den Ofenrand und begann große Rauchwolken auszustoßen.
»Den Reinerz müssen Sie laufen lassen,« bemerkte er dann nach einer Pause, »er verklagt Sie sonst und bringt Exekution aus – es ist ein rabiates Subjekt.«
»Mit dem Kirchbauer ist auch nicht zu spaßen!« sagte seufzend der Vogt.
»Lassen Sie mich nur machen, Vogt«, flüsterte nach einer Weile Schilling.
»Was will Er tun, Schilling?«
»Wenn er nicht verurteilt sein will, soll er den Wechsel auf Sie herausgeben«, antwortete der Amtsdiener in demselben Tone.
Der Vogt sah mit einem eigentümlichen Blicke, der etwas von der Dankbarkeit eines Geretteten ausdrückte, zu seinem Amtsdiener hinüber, ohne jedoch durch ausdrückliche Worte auf dessen Vorhaben einzugehen. Nach einer Pause sagte er indes mit einem tiefen Seufzer:
»Ist das nun eine Art, die Gerechtigkeit zu handhaben? Ist das Unparteilichkeit? Kann ich so die Obrigkeit in Respekt halten? Schilling, es ist eine Schande!«
Schilling schwieg zu diesem Ausbruch entrüsteten moralischen Gefühls in seinem Vorgesetzten.
»Da soll ich mit zweihundert Talern Gehalt jährlich, freier Wohnung und acht Klaftern Holz, und was das bißchen Sporteln ausmacht, hier den Vogt spielen und die Gerechtigkeit verwalten. Was ist das für eine Gerechtigkeit, die ich für zweihundert Taler Gehalt liefern kann! Es ist eine jämmerliche Gerechtigkeit, es ist gar keine Gerechtigkeit, Schilling!«
Schilling begnügte sich damit, den Ofen anzuspucken.
»Der Pastor hat auch nicht mehr!« bemerkte er nach einer Pause.
»Der Pastor – was braucht der viel? Und wenn der tauft, so ist's getauft, dabei ist kein Unterschied; wenn ich aber ein Urteil spreche – dabei ist immer ein Unterschied!«
»Leider!« sagte Schilling.
»Zu seinem Vergnügen, für seinen Champagner, für seine Soldaten hat unser Gnädigster Geld,« fuhr der Vogt fort, »aber für seine Beamten nicht, die hungern. Wir sollen die Herren machen; sollen die ersten sein im Ort; sollen Recht sprechen ohne Ansehen der Person – und zweihundert Taler Gehalt – Die Frau ... wollte sagen: die Welt ist zu dumm!«
»Lassen Sie die Marie doch in Gottes Namen in den Hofdienst nach Ruppenstein gehen,« bemerkte Schilling mit einem sarkastischen Lächeln, »eine Gehaltserhöhung werden Sie dann schon mit der Zeit herausbringen, Vogt!«
Ich will's nicht, und ich will's nicht«! rief der Vogt aus. »Ich habe nur das eine Kind, Schilling!«
»Sie sind mitunter recht gern da«, fuhr der Amtsdiener, ohne sich durch des Vogts Beteuerungen stören zu lassen, fort, »Sie haben allerlei Kurzweil! Es wird Ihnen auch, wie es scheint, der Abschied jedesmal recht schwer. Ich habe noch keine gekannt, die zurückgekommen wäre, ohne recht verweint und recht erbärmlich traurig auszusehen!«
Schillings langes Totengräbergesicht nahm bei diesen Worten einen Ausdruck boshaften Hohns an. Der Vogt seufzte, wandelte auf und ab und stieß qualmige Rauchwolken aus.
»Ich kann noch immer nicht glauben, daß die Frau von Averdonk sie von sich läßt,« sagte er nach einer Weile. »Der alte Freiherr hatte ja recht einen Narren gefressen an der Marie; der Mann konnte ja nicht ohne sie sein. Es muß doch einer sein, der für den alten Narren sorgt und ihm die Zeit vertreibt.«
»Er kann ja endlich mal seine Bücherkasten aufschlagen, um Zeitvertreib zu haben«, sagte Schilling spöttisch.
Der Vogt wandte sich, ohne zu antworten, jetzt mißmutig seinen Akten zu; Schilling klopfte seine Pfeife aus und ging, um noch vor Beginn des Termins eine Ladung, die ihm der Vogt übergab, fortzubringen. Daß unterdes in der Angelegenheit Mariens nichts von dem Vogt ohne ihn, Schilling, beschlossen werden würde, darüber konnte er beruhigt sein: der Vogt liebte es, höchst energische Entschlüsse zu verkünden; zur Ausführung pflegte es aber nicht zu kommen.
Unterdes hatte Hubert ein wenig von dem Tee und dem Brot genossen, welches ihm die Hausfrau gebracht hatte. Sie stand dabei und sah mit einem Ausdruck von gutmütigem Mitleid zu, wie er sich daran erquickte. Fragen richtete sie nicht an ihn. Aber sie bemerkte, daß es kaltes und stürmisches Wetter sei, daß die Wege sehr schlecht seien, daß Tee eine rechte Herzstärkung sei, wenn man sich unwohl fühle, daß sie seine Kleider trocknen und reinigen lassen werde. Das alles brachte sie in ihrer stillen sanften Weise, mit einer wahren Duldermiene als seien es höchst bedauerliche Dinge, vor. Hubert wäre, wenn ihm sein Zustand viel Teilnahme für andere Gegenstände übriggelassen hätte, imstande gewesen, darüber gerührt zu werden; so aber erinnerte er sich nur an des Vogts Refrain: die Frau ist zu dumm; und dann dachte er an Marie, deren schönes Gesicht allerdings das ihrer Mutter widerspiegelte, aber so merkwürdig idealisiert und verklärt und vergeistigt; und dann umschwebte ihn dieses Gesicht, wie das Antlitz irgendeines schützenden Engels, der den Schlaf zu hüten kam, zu welchem er jetzt die Augen schloß; es mischte sich in seine Träume, in unruhige, ängstliche, fieberhafte Träume, die ihn mehrmals erschrocken auffahren ließen; in wirre Bilder und Visionen, unter deren Einfluß er aufstöhnte und mit den Armen um sich schlug, bis sein oft unterbrochener Halbschlummer nach und nach in einen tiefen erquickenden Schlaf überging. Dieser Schlaf war so fest, daß die schweren Nagelschuhe, die nach ein paar Stunden in der Nebenstube auftraten und hin- und hergingen, die eifernden, sich zankenden Stimmen, die aus rauhen Kehlen hier laut wurden, die den Tumult überschreienden Rufe des Vogts, wenn er Ruhe und Stille gebot – kurz, der ganze Lärm eines vom Vogt zu Elsen abgehaltenen Polizeigerichts, das nur durch eine Tür von Hubert getrennt war, nicht vermochte, ihn aufzuwecken.
Es war mehrere Stunden nach Mittag, als er erwachte, die Augen rieb und sich mit erquickten Kräften und erfrischtem Mut in dem Stübchen umsah, in welchem er sich befand. Das Wetter hatte sich aufgeklärt, die Sonne schien freundlich in die kleine Kammer. Die Zweige schon halb entblätterter Obstbäume pochten leise, vom Winde bewegt, an die Fensterscheiben. In Huberts Stube stand eine alte geschweifte Kommode dem Bett gegenüber; ein altmodischer Spiegel in schwarzem Holzrahmen hing darüber; zwischen Spiegel und Kommode ein Bild in ovaler Medaillonform. Hubert ließ sein Auge darauf haften; es stellte den Kopf und die Brust eines Mannes in jugendlichem Alter dar, mit gepuderten Ailes-de-Pigeon-Locken an den Schläfen, in einem graublauen Rock und mit einem niedern, aber breitrandigen Hute – kurz, in einem Kostüm, wie man sie auf Bildern aus, der Zeit Chodowieckis sieht. Die Züge des Mannes zogen Hubert eigentümlich an – sie hatten ihm etwas Bekanntes; СКАЧАТЬ