Название: Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe
Автор: Levin Schücking
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075838650
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»Um welche Stunde?«
»Um zehn oder halb elf etwa war es, als ich dahin gerufen wurde.«
»Und wie hieß die Dame?«
»Das weiß ich nicht, danach habe ich auch nicht gefragt,« versetzte der Professor, »es mußte aber eine vornehme Herrschaft sein, sie hatte außer dem kranken Menschen noch einen Kammerdiener bei sich und sechs Postpferde vor dem Wagen, was denn freilich bei jetziger Jahreszeit auch nicht zuviel ist. Als Deservitum gab mir der Kammerdiener einen Kronentaler.«
»Und sie sagte Ihnen, der Kranke sei einer ihrer Bedienten?«
»Sagte sie es ... oder sagte sie es nicht ... ich entsinne mich dessen nicht genau; aber mir schien es so. Doch nun Gott befohlen, Herr Collega, ich muß anitzo weiter zu meinen Patienten.«
Damit schloß Professor Heukeshoven seine Mitteilungen und stapfte an seinem großen Rohr mit goldenem Knopf davon.
Jungfer Traud und ihr Begleiter sahen sich mit betroffenen Mienen an.
»Das ist niemand anders gewesen als Hubert Bender!« sagte Traudchen.
Professor Bracht nickte. »Ganz ohne Zweifel«, versetzte er.
»Und ihn so in Nacht und Nebel fortzuführen!«
»Höchst unbesonnen bei seinem Zustande! Es mußte seinen Zustand doppelt bedenklich machen!« fiel Bracht ein.
»Es hieß ihn töten, ihn in einem Wagen hin- und herstoßen zu lassen!«
»Professor Heukeshoven hätte abraten sollen«, bemerkte der sanfte Gelehrte.
»Er hätte sich widersetzen, er hätte zum Gewaltrichter laufen sollen«, rief leidenschaftlich Traudchen aus. »Es ist entsetzlich! Ihn wie einen Gefangenen mit sich schleppen... aber kommen Sie, Professor, kommen Sie zu dem Maler, wir wollen wissen, mit wem wir es zu tun haben; und wenn der Maler uns keine Aufschlüsse geben kann, zum Weißen Falken!«
Der Maler konnte aber Aufschlüsse geben. Es war ein merkwürdiger alter Junggeselle, dieser Maler Stevenberg. Er wohnte in einem alten Hause »unter Kranenbäumen« in einem großen Zimmer oder einer Art Gartensaal, dessen Fenster er unten samt und sonders mit alten Tüchern und Bruchstücken ausgedienter Teppiche verhüllt hatte, als triebe er irgendein verbotenes Handwerk hier, bei dem ihn niemand belauschen sollte. So kam es wenigstens Traudchen vor, die nicht wußte, daß es geschehen, um dem Lichte den rechten Einfallwinkel zu geben; auch schien ihr nur natürlich, daß Herr Stevenberg ängstlich die Blicke fremder Menschen von dem schrecklich unordentlichen Wirrwarr auszuschließen suche, der in seinem Zimmer herrschte. Wie der Mann abends in das große Himmelbett komme, welches in der Ecke stand, war Traudchen vollends unbegreiflich. Das Bett schien ihm nämlich als Eßtisch und nebenbei als schicklichster Platz zum Farbenreiben zu dienen. Auf der Decke stand eine Platte mit Brot, Bier und Wurst, und daneben lag ein schwerer, farbebedeckter Reibstein, der tief in die weiche Unterlage eingesunken. Der Tisch, an welchem der Maler arbeitete, war bedeckt mit Pergamentrollen, alten Urkunden, Pinseln, Farbentöpfen, Mastix- und Terpentinflaschen, die einen ganz entsetzlichen Geruch verbreiteten. Über diesem Wust erhob Herr Stevenberg mit fragender Miene sein kahles Haupt, als der magere Professor der Osteologie und das hübsche blühende junge Mädchen bei ihm eintraten.
Professor Bracht trug dem Maler – es war ein kräftig gebauter Mann mit starkem Unterkinn – sein Anliegen vor, und Herr Stevenberg betrachtete dann aufmerksam das grüne Siegel, welches Bracht ihm reichte.
»Es sind drei goldene Pferdeprammen im grünen Felde mit einer Freiherrnkrone,« sagte der Wappenmaler mit sehr düsterm Ernst; »Pferdeprammen sind sehr häufig; es ist ein Stallmeisterwappen – ha, ha, ha, ha!« – Herr Stevenberg brach plötzlich in ein lautes, herzliches Lachen aus.
Professor Bracht und seine Begleiterin waren weder durch den Ernst noch durch den Heiterkeitsanfall des Herrn Stevenberg viel klüger als zuvor geworden, und das junge Mädchen sagte:
»Es käme uns darauf an, zu wissen, wem das Wappen gehört, wer es führt.«
»Von Averdonk zu Dudenrode«, sagte er dann in einem Tone, als ob er das junge Mädchen fühlen lassen wolle, daß es unmoralisch sei, solche Worte wie: von Averdonk zu Dudenrode, sich vorsagen zu lassen. Plötzlich aber lachte er wieder hellauf, als er hinzusetzte: »Das sind wunderliche Leute! Ha, ha, ha, ha!«
»Kennen Sie die Familie«, fragte Traudchen, »so seien Sie so gut, uns zu sagen, was Sie davon wissen – wir haben ein dringendes Interesse, es zu erfahren!«
Das Gesicht des Malers überschattete wieder ein düsterer Ernst, der jedoch bald darauf der strahlenden Sonne der Heiterkeit wich, die ganz unerwartet über seine kahle Stirn und sein gutmütiges Gesicht leuchtete. Der seltsame Mann hatte sich offenbar vorgesetzt, dem Ernst des Lebens und dem heitern Scherz gleichen Anteil an seinem Dasein einzuräumen; und da es ihm nicht gegeben war, beide in einem angenehmen Humor zu vereinen, so stellte er getrost beide Farbentöne so grell dicht nebeneinander, wie die Tinkturen auf seinen Wappen.
»Die Averdonk zu Dudenrode?« antwortete er also sehr ernst, »jawohl, kenn' ich die ...« und er gab die verlangte weitere Auskunft, bis Traudchen alles erfahren hatte, was er wußte: Die Reichsfreifrau von Averdonk zu Dudenrode war eine ältliche Dame von sehr energischem Charakter, die jenseit des Rheins im Süderlande auf einem Gute wohnte, auf welchem sie auch noch einem Reichsfreiherrn von Averdonk, ihrem Gatten, der aber nicht weiter in Betracht zu kommen schien, und einem Neffen, Franz von Ardey, zu wohnen und sich unter ihrem Zepter der süßen Gewohnheit des Daseins zu erfreuen verstattete. Sie war etwa fünfzig Jahre alt, sehr reich, und von ihr stammten die Güter her, ein Umstand, den sie ihrem Gemahl keinen Augenblick zu vergessen gestattete.
»Und können Sie mir vielleicht auch sagen,« fragte Traudchen, »wer denn ›der Tolle‹ ist?«
»Der Tolle?« versetzte Herr Stevenberg so düster, als sei er in seinen besten und reinsten Gefühlen verletzt, daß unsere Umgangssprache solche unmoralische Ausdrücke besitze, und daß er sie von dem Munde eines so jungen Mädchens vernehmen müsse: »Der Tolle? das weiß ich nicht – aber wenn Sie in die Gegend da« – und er machte eine Bewegung mit der Hand, als wolle er gen Osten über den Rhein hindeuten – »wenn Sie dahin kommen, werden Sie Tolle genug finden!« Und dabei brauste Herr Stevenberg in einem Gelächter auf, als wenn er jetzt plötzlich auch unter die Tollen gegangen und sich vor Vergnügen über diese Wendung der Dinge gar nicht zu lassen wisse!
Traudchen begleitete den Professor bis an seine Wohnung zurück. Beide sprachen wenig. Das junge Mädchen wälzte Pläne in ihrem Geiste herum, zu deren Vertrauten sie den Gelehrten in diesem Augenblicke noch nicht machen konnte. Er hätte am Ende gar den tiefsten und eigentlichsten Grund, weshalb Traudchen so bewegt war, nicht verstanden, höchstens als hysterische Störung des Allgemeingefühls gelten lassen und diese zur Behandlung und Kur ad legem artis seinem Collega Heukeshoven überwiesen.
An der Tür seines Ladens und Hauses erwarteten Professor Bracht seine beiden hoffnungsvollen Töchter, das Nieschen und das Billchen. Das Nieschen empfing ihn mit lauten Vorwürfen, daß er so lange ausgeblieben; das Billchen legte ihre Gefühle über des Papas unverantwortliches Vagabondieren durch schweigendes Schmollen an den Tag. Jungfer Traud überließ ihn nach herzlichem Dank für seine Begleitung seinem Familienglück und der Freude, welche ihm beim Wiedersehen mit seinem hoffnungsvollen Sohne Drickes bevorstand, welcher letztere ihn in seinem Studierzimmer erwartete, wo Drickeschen die ihm entzogene Fuchsschwanzzierde durch eine hohe Papiermütze ersetzt hatte, kunstreich gebildet aus Professor Brachts zuletzt ausgearbeiteten Vorlesungsbogen. СКАЧАТЬ