Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke
Автор: Walter Benjamin
Издательство: Ingram
Жанр: Контркультура
isbn: 9789176377444
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er Das heißt ganz einfach: die Kunst ist nicht die Dienerin des Staates, nicht die Magd der Kirche, sie ist nicht mal für das Leben des Kindes. Usw. L’art pour l’art heißt: man weiß nicht wohin mit ihr – mit der Kunst.
ich Ich glaube Sie haben Recht, was die meisten betrifft. Aber wieder nicht für uns. Ich glaube, wir müssen uns von diesem Mysterium des Philisters, dem l’art pour l’art losmachen. Für den Künstler und nur für den ist es gesagt. Für uns hat es einen anderen Sinn. Natürlich soll man nicht an die Kunst gehen, um seine eitlen Phantasien zu empfangen. Wir können uns aber doch nicht mit dem Staunen begnügen. Also »l’art pour nous«! Entnehmen wir dem Kunstwerk Lebenswerte: Schönheit, Formerkenntnis und Gefühl. »Alle Kunst ist der Freude gewidmet. Und es gibt keine höhere und wichtigere Aufgabe, als die Menschen zu beglücken«, sagt Schiller.
er Die Halbgebildeten mit dem l’art pour l’art, mit ihrer ideologischen Begeisterung und persönlichen Ratlosigkeit, mit ihrem technischen Halbverständnis können am allerwenigsten Kunst genießen.
ich Das alles ist überhaupt von einem anderen Standpunkt aus nur Symptom. Wir sind irreligiös.
er Gott sei Dank! wenn Sie unter Religion gedankenlose Autoritätsgläubigkeit verstehen, ja auch nur Wunderglauben, auch nur Mystik. Religion ist mit dem Fortschritt unvereinbar. Ihre Art ist, alle drängenden, expansiven Kräfte in der Innerlichkeit zu einem einzigen erhabenen Schwerpunkt anzuhäufen. Religion ist die Wurzel der Trägheit. Ihre Heiligung.
ich Ich widerspreche Ihnen durchaus nicht. Religion ist Trägheit, wenn Sie Trägheit nämlich die beharrende Innerlichkeit und das beharrende Ziel alles Strebens nennen. Irreligiös sind wir, weil wir nirgends mehr das Beharren beachten. Bemerken Sie, wie man den Selbstzweck, diese letzte Heiligung eines Zieles herabreißt? Wie jedes einzelne, das nicht klar und ehrlich erkannt wird, »Selbstzweck« wird. Weil wir jämmerlich arm an Werten sind, isolieren wir alles. Dann wird aus der Not die obligate Tugend gemacht. Kunst, Wissenschaft, Sport, Geselligkeit – bis zum lumpigsten Individuum geht er hinunter, dieser göttliche Selbstzweck. Jeder stellt etwas dar, bedeutet etwas, ist der Einzige.
der freund Was Sie hier nennen, sind nichts als Symptome einer stolzen, herrlichen Lebensfreude. Wir sind eben weltlich geworden, mein Lieber, und es wird Zeit, daß auch die mittelalterlichsten Köpfe das merken. Wir geben den Dingen ihre eigene Weihe, die Welt ist vollkommen in sich.
ich Zugegeben! Was ist das mindeste, was wir von der Weltlichkeit verlangen? Freude an dieser neuen, modernen Welt. Und was hat aller Fortschritt, alle Weltlichkeit mit Religion zu tun, wenn sie uns nicht eine freudige Ruhe geben? Ich brauche Ihnen doch nicht zu sagen, daß unsere Weltlichkeit ein aufreibender Sport geworden ist? Wir sind gehetzt von Lebensfreude. Es ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sie zu fühlen. Kunst, Verkehr, Luxus, alles ist verpflichtend.
der freund Ich verkenne das nicht. Aber betrachten Sie doch die Erscheinungen. Wir haben in unserem Leben jetzt einen Rhythmus, der zwar von Antike und klassischer Gelassenheit wenig hat. Aber eine neue Art intensiver Freudigkeit ist es. Mag sie noch so oft gezwungen sich zeigen, sie ist da. Wir suchen das Freudige wagemutig. Wir haben alle eine seltsame Abenteuerlust nach dem überraschend Frohen und Wunderbaren.
ich Sie reden sehr unbestimmt, und doch hält uns etwas ab, Sie anzugreifen. Ich fühle, daß Sie im Grunde eine Wahrheit sagen, eine unbanale Wahrheit, die so neu ist, daß sie allein schon im Entstehen Religion vermuten ließe. Trotzdem – unser Leben ist nicht auf diesen reinen Ton gestimmt. Für uns sind in den letzten Jahrhunderten die alten Religionen geborsten. Aber ich glaube nicht so folgenlos, daß wir uns der Aufklärung harmlos freuen dürfen. Eine Religion band Mächte, deren freies Wirken zu fürchten ist. Die vergangenen Religionen bargen in sich die Not und das Elend. Die sind frei geworden. Wir haben vor ihnen nicht mehr die Sicherheit, die unsere Vorfahren dem Glauben an die ausgleichende Gerechtigkeit entnahmen. Das Bewußtsein eines Proletariats, eines Fortschritts, alles Mächte, die die Früheren in ihrem religiösen Dienste ordnungsgemäß befriedigen konnten, um Frieden zu erlangen, sie beunruhigen uns. Sie lassen uns nicht zur Ehrlichkeit kommen, wenigstens nicht in der Freude.
der freund Mit dem Fall der sozialen Religion ist das Soziale uns näher gekommen. Es steht fordernder, zum mindesten gegenwärtiger vor uns. Vielleicht unerbittlicher. Und wir erfüllen es nüchtern und vielleicht streng.
ich Aber bei alledem fehlt uns vollkommen die Achtung vor dem Sozialen. Sie lächeln; ich weiß, daß ich ein Paradoxon ausspreche. Wenn ich das sage, so meine ich, daß unsere soziale Tätigkeit, so streng sie sein mag, an einem krankt: sie hat ihren metaphysischen Ernst verloren. Sie ist eine Sache der öffentlichen Ordnung und der persönlichen Wohlanständigkeit geworden. Fast allen denen, die sich sozial betätigen, ist das nur eine Sache der Zivilisation, wie das elektrische Licht. Man hat das Leid entgöttert, wenn Sie den poetischen Ausdruck verzeihen.
der freund Ich höre Sie wieder der entschwundenen Würde, der Metaphysik nachtrauern. Aber nehmen wir doch die Dinge nüchtern ins Leben hinein! Verlieren wir uns nicht im Uferlosen! Fühlen wir uns doch nicht bei jedem Mittagessen berufen! Ist das keine Kultur, wenn wir etwas aus den Höhen pathetischer Freiwilligkeit zum Selbstverständlichen herabziehen. Ich sollte meinen, alle Kultur beruhe darauf, daß Göttergebote zu menschlichen Gesetzen werden. Welch überflüssige Kraftanstrengung, alles aus dem Metaphysischen zu beziehen!
ich Wenn man noch das Bewußtsein ehrlicher Nüchternheit in unserem sozialen Leben hätte. Aber auch das nicht. Wir liegen in einem lächerlichen Zwischenstaat gefangen: die Toleranz soll soziale Betätigung von aller religiösen Ausschließlichkeit befreit haben – und dieselben, die die soziale Tätigkeit der Aufgeklärten proklamieren, machen aus der Toleranz, aus der Aufklärung, der Indifferenz und sogar der Frivolität eine Religion. Ich bin der letzte, gegen die schlichten Formen des täglichen Lebens zu reden. Wenn man aber diese natürliche soziale Tätigkeit hinterrücks wieder zum heilig-tyrannischen Maßstab der Personen macht, weit über die Notwendigkeit des staatlich Gebotenen hinaus, so ist eben der Sozialismus doch Religion. Und die »Aufgeklärten« heucheln, der Religion gegenüber oder in ihren Forderungen. Ein Wort für viele: Blumentage.
der freund Sie denken hart, weil Sie unhistorisch denken. So viel bleibt wahr: wir sind in einer religiösen Krise. Und noch können wir den wohltätigen, aber eines freien Menschen unwürdigen Druck der religiös-sozialen Verpflichtung nicht entbehren. Noch haben wir uns nicht völlig zur sittlichen Selbständigkeit hochgerungen. Dies ist ja das Wesen der Krisis. Die Religion, die Hüterin sittlicher Inhalte, wurde als Form erkannt, und wir sind dabei, unsere Sittlichkeit als ein Selbstverständliches zu erobern. Noch ist diese Arbeit nicht vollendet, noch haben wir Übergangserscheinungen.
ich Gott sei Dank! Mir graust vor dem Bild sittlicher Selbständigkeit, das Sie beschwören. Religion ist Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote, sagt Kant. D. h.: die Religion garantiert uns ein Ewiges in unserer täglichen Arbeit und das ist es, was vor allem not tut. Ihre gerühmte sittliche Selbständigkeit würde den Menschen zur Arbeitsmaschine machen, für Zwecke, von denen immer einer den anderen bedingt in endloser Reihe. Wie Sie es meinen, ist die sittliche Selbständigkeit ein Unding, Erniedrigung aller Arbeit zum Technischen.
der freund Entschuldigen Sie, aber man sollte glauben, Sie lebten so fern von der Moderne wie der reaktionärste ostpreußische Gutsherr. Gewiß, die technisch-praktische Auffassung hat in der ganzen Natur jede einzelne Lebenserscheinung entseelt, sie hat zuletzt das Leid und die Armut entseelt. Aber im Pantheismus haben wir die gemeinsame Seele aller Einzelheiten, alles Isolierten gefunden. Wir können СКАЧАТЬ