Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
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Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Автор: Walter Benjamin

Издательство: Ingram

Жанр: Контркультура

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isbn: 9789176377444

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СКАЧАТЬ der er sich das zugesteht. Ehrlichkeit, die in allem Leid, durch dies Leid ihn hebt. – Das ist lebendiger und jäher Widerspruch zur sozialen Trägheit unserer Zeit. – Und hier liegt die tiefste, wirklich: ich sage die tiefste Erniedrigung, der das moderne Individuum bei Strafe des Verlustes der gesellschaftlichen Möglichkeiten unterliegen muß: in der Verschleierung der Individualität, all dessen, was innerlich umwühlend und bewegend ist. Ich möchte Ihnen jetzt das Konkreteste sagen: hieran wird die Religion sich aufrichten. Sie wird wieder einmal vom Geknechteten ausgehen – der Stand aber, der heute diese historische, notwendige Knechtung trägt, das sind die Literaten. Sie wollen die Ehrlichen sein, ihre Kunstbegeisterung, ihre »Fernsten-Liebe«, um mit Nietzsche zu reden, wollen sie darstellen, aber die Gesellschaft verstößt sie – sie selber müssen selber alles Allzumenschliche, dessen der Lebende bedarf, in pathologischer Selbstzerstörung ausrotten. So sind die, welche die Werte ins Leben, in die Konvention umsetzen wollen: und unsere Unwahrhaftigkeit verurteilt sie zum Outsidertum und zur Überschwenglichkeit, die sie unfruchtbar macht. Niemals werden wir die Konventionen durchgeistigen, wenn wir nicht diese Formen sozialen Lebens mit unserem persönlichen Geiste erfüllen wollen. Und dazu verhelfen uns die Literaten und die neue Religion. Religion gibt einen neuen Grund und einen neuen Adel dem täglichen Leben, der Konvention. Sie wird zum Kult. Dürsten wir nicht nach geistiger, kultischer Konvention?

      der freund Wie Sie Menschen, die in Kaffeehäusern ein unreines, oft genug ungeistiges Leben führen, Menschen, die jede simpelste Verpflichtung in Größenwahn und Trägheit leugnen, Menschen, die die Schamlosigkeit selbst darstellen, ja – wie Sie von denen die neue Religion erwarten, das ist mir unklar, gelinde gesagt.

      ich Ich habe nicht gesagt, daß ich die neue Religion von ihnen erwarte, sondern daß ich sie als Träger religiösen Geistes in unserer Zeit ansehe. Und das behaupte ich, mögen Sie mir hundertmal vorwerfen, daß ich konstruiere. Gewiß, diese Menschen führen zum Teil das lächerlichste, das verkommenste und ungeistigste Leben. Aber aus geistiger Not, nicht wahr, aus Sehnsucht nach einem ehrlichen persönlichen Leben ist dieses Elend geflossen? Was tun denn die Leute anderes, als sich mit der höchst schwierigen eigenen Ehrlichkeit befassen? Aber natürlich, was wir Ibsens Helden zubilligen, geht uns im Leben nichts an.

      der freund Sagten Sie vorhin nicht selbst, daß diese fanatische, bohrende Ehrlichkeit dem Kulturmenschen versagt sei, daß sie all unsere innere und äußere Fähigkeit zersetzt.

      ich Ja, und deshalb ist nichts fürchterlicher, als wenn das Literatentum um sich griffe. Aber eine Hefe ist nötig, ein Gärstoff. Sowenig wir Literaten in diesem letzten Sinne sein wollen, sosehr sind sie als Vollstrecker des religiösen Willens zu achten.

      der freund Religion geht schamvoll vor sich, ist eine Reinigung und Heiligung in der Einsamkeit. Im Literatentum sehen Sie das krasse Gegenteil. Deshalb ist es schamvollen Menschen verfemt.

      ich Warum Sie nur gerade der Scham alle Heiligkeit zusprechen und so wenig von der Ekstase reden? Wir haben wirklich vergessen, daß die religiösen Bewegungen durchaus nicht in innerlicher Stille die Generationen ergriffen haben. Nennen Sie die Scham eine nötige Waffe des Selbsterhaltungstriebes; aber heiligen Sie sie nicht, sie ist restlos natürlich. Niemals wird sie von einem Pathos, einer Ekstase, die sich dehnen und ausbreiten können, etwas zu fürchten haben. Und nur das unreine Feuer des feigen unterdrückten Pathos, das kann sie vielleicht zerstören.

      der freund Und wirklich steht der Literat im Zeichen dieser Schamlosigkeit. Daran geht er zugrunde, wie an innerlicher Fäulnis.

      ich Darauf sollten Sie sich am wenigsten berufen, denn er unterliegt diesem aushöhlenden Pathos, weil die Gesellschaft ihn gebannt hat, weil er kaum die jämmerlichsten Formen hat, seine Gesinnung zu leben. Wenn wir wieder die Kraft haben, die Konvention ernst und würdig zu gestalten, anstatt unseres gesellschaftlichen Talmitums, dann haben wir für die neue Religion das Symptom. Kultur des Ausdrucks ist die höchste und nur auf ihrer Grundlage zu denken. Aber unsere religiösen Gefühle sind frei. – Und so versehen wir unwahre Konventionen und Gefühlsverhältnisse mit der nutzlosen Energie der Pietät.

      der freund Ich beglückwünsche Sie zu ihrem Optimismus und Ihrer Konsequenz. Glauben Sie wirklich, daß bei dem herrschenden sozialen Elend, bei dieser Flut ungelöster Probleme, noch eine neue Problematik, die Sie sogar Religion nennen, nötig oder auch nur möglich sei? Denken Sie nur an ein ungeheures Problem, die Frage der Sexualordnung der Zukunft.

      ich Ein ausgezeichneter Gedanke! Gerade diese Frage ist, wie ich meine, nur auf dem Grunde persönlichster Ehrlichkeit zu lösen. Zum Komplex der sexuellen Probleme und der Liebe werden wir erst dann offen Stellung nehmen können, wenn wir sie von der verlogenen Verquickung mit unendlichen sozialen Gedanken lösen. Die Liebe ist zunächst einmal eine persönliche Angelegenheit zwischen zweien und durchaus kein Mittel zum Zwecke der Kindererzeugung; lesen Sie dazu »Faustina« von Wassermann. Im übrigen glaube ich tatsächlich, daß eine Religion aus einer tiefen und fast unerkannten Not geboren sein muß. Daß für die geistigen Führer also das soziale Element kein religiöses mehr ist, wie ich schon sagte. Dem Volke soll seine Religion gelassen werden, ohne Zynismus. D. h. es bedarf noch, keiner neuen Erkenntnisse und Ziele. Ich hätte mit einem Menschen sprechen können, der ganz anders geredet hätte wie Sie. Für ihn wäre das Soziale ein Erlebnis gewesen, das ihn erst gewaltsam aus seiner naivsten, geschlossenen Ehrlichkeit hätte herausreißen müssen. Er hätte die Masse der Lebenden dargestellt, und er gehört im weitesten Sinne den historischen Religionen an.

      der freund Sie reden auch hier von Ehrlichkeit. Also sollen wir zu diesem Standpunkt des egozentrischen Menschen zurück?

      ich Ich glaube, Sie mißverstehen mich systematisch. Ich spreche von zwei Ehrlichkeiten. Der vor dem Sozialen und der, die ein Mensch nach der Erkenntnis seiner sozialen Gebundenheit hat. Ich verabscheue nur die Mitte: die verlogene Primitivität des komplizierten Menschen.

      der freund Und nun glauben Sie wirklich, inmitten des religiösen und kulturellen Chaos, in dem die Führenden gebunden sind, die neue Ehrlichkeit aufzurichten? Trotz Décadence und Mystik, Theosophen, Adamiten und unendlicher Sekten? Denn auch in denen hat jede Religion erbitterte Feinde. Sie verdecken die Kluft zwischen Natur und Geist, Ehrlichkeit und Lüge, Individuum und Gesellschaft – oder wie Sie es gruppieren wollen.

      ich Nun nennen Sie selbst die Mystik die Feindin der Religion. Nicht nur überbrückt sie die Schärfe religiöser Problematik – sie ist zugleich passend und sozial. Aber bedenken Sie, wie weit dies auf den Pantheismus treffen würde. – Das neu erwachende, religiöse Gefühl aber trifft es nicht. So wenig, daß ich in der Geltung und Ausbreitung der Mystik und Decadence sogar seine Symptome erblicke. Doch erlauben Sie, daß ich es näher erkläre: ich sagte schon, daß ich den Augenblick dieser neuen Religion – ihrer Grundlegung – historisch festlege. Es war der Augenblick, da Kant die Kluft zwischen Sinnlichkeit und Verstand aufriß und da er in allem Geschehen die sittliche, die praktische Vernunft waltend erkannte. Die Menschheit war aus ihrem Entwicklungsschlaf erwacht, zugleich hatte das Erwachen ihr ihre Einheit genommen. Was tat die Klassik? Sie vereinte noch einmal Geist und Natur: sie betätigte die Urteilskraft und schuf die Einheit, die immer nur eine Einheit des Augenblickes, der Ekstase, der großen Schauenden sein kann. Ehrlich, grundlegend können wir sie nicht erleben. Grundlage des Lebens kann sie nicht werden. Sie bedeutet seine ästhetische Höhe. Und wie die Klassik ästhetische Reaktionserscheinung war, in dem schneidenden Bewußtsein, daß es den Kampf um die Totalität des Menschen gelte, so nenne ich auch Mystik und Decadence Reaktionserscheinungen. Das Bewußtsein, das in zwölfter Stunde aus der Ehrlichkeit des Dualismus sich retten will; aus der Persönlichkeit fliehen will. Aber Mystik und Decadence führen einen aussichtslosen Kampf: sie negieren sich selbst. Die Mystik durch die gesuchte scholastisch-ekstatische Art, mit der sie das Sinnliche als Geistiges faßt, oder beides als Erscheinung des wahren Übersinnlichen. Zu diesen hoffnungslosen Spekulationen zähle ich den Monismus. Ich nenne es unschädliche Denkerzeugnisse, die einen ungeheuern Aufwand suggestiblen Gemütes brauchen und, wovon wir schon sprachen, das Geistreiche СКАЧАТЬ