Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke - Walter Benjamin страница 194

Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Автор: Walter Benjamin

Издательство: Ingram

Жанр: Контркультура

Серия:

isbn: 9789176377444

isbn:

СКАЧАТЬ die Todsünde, den Geist natürlich zu machen, ihn als selbstverständlich zu nehmen, nur kausal bedingt. Sie leugnet die Werte (und damit sich selbst), um den Dualismus von Pflicht und Person zu bezwingen.

      der freund Sie wissen vielleicht, wie es so manchmal geht. Man denkt eine Zeitlang angestrengt, glaubt einem neuen Unerhörten auf der Spur zu sein und sieht sich plötzlich schaudernd vor einer ungeheuern Banalität. Und so geht es mir. Ich frage mich eben unwillkürlich: was ist an dem, wovon wir reden? Ist es nicht eine Selbstverständlichkeit, ein Nicht-Redenswertes, daß wir in einem Zwiespalt von Individuellem und Sozialem leben? Jeder hat ihn in sich erfahren, erfährt ihn täglich. Gut, wir haben die Kultur und den Sozialismus zum Siege gebracht. Und damit ist alles entschieden. – Sie sehen – ich habe jeden Blick, jedes Verständnis verloren.

      ich Und nach meiner Erfahrung wiederum steht man vor einer tiefen Wahrheit, wenn man eine Selbstverständlichkeit um einen Grad vertieft, vergeistigt, möchte ich sagen. Und so ist es uns mit der Religion ergangen. Gewiß, Sie haben Recht in dem was Sie sagen. Aber machen Sie einen Zusatz. Dieses Verhältnis sollen wir aber nicht als ein technisch-notwendiges fassen, das aus Äußerlichkeit und Zufall geboren wurde. Nehmen wir es als sittlich-notwendig, durchgeistigen wir wieder einmal die Not zur Tugend! Gewiß, wir leben in einer Not. Aber wertvoll wird unser Verhalten nur, indem es sich sittlich begreift. Hat man sich denn das Furchtbare, Unbedingte gesagt, das in der Ergebung der Person unter sozialsittliche Zwecke steckt? Nein! Warum nicht? Weil man vom Reichtum und Schwergewicht der Individualität tatsächlich nichts mehr weiß. So wahr ich Menschen des täglichen Lebens kenne, sage ich Ihnen, daß diese das Körpergefühl ihrer geistigen Persönlichkeit verloren haben. Im Augenblick, wo wir das von neuem finden und uns unter die kulturelle Sittlichkeit beugen, sind wir demütig. Dann erst erhalten wir das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit, von der Schleiermacher spricht, statt einer konventionellen Abhängigkeit. – Aber ich kann Ihnen das vielleicht kaum sagen, weil es sich auf einem so neuen Bewußtsein persönlicher Unmittelbarkeit gründet.

      der freund Nochmals, Ihre Gedanken haben einen steilen Flug. So, daß sie sich von aller Problematik der Gegenwart reißend schnell entfernen.

      ich Das erwartete ich am wenigsten zu hören; der ich den Abend, die Nacht lang von der Not der Führenden sprach.

      der freund Und doch, Glauben und Wissen heißt die Parole unserer religiösen Kämpfe. Kein Wort sprachen Sie davon. Ich füge hinzu, von meinem Standpunkt eines Pantheismus oder Monismus gibt es diese Frage allerdings nicht. Aber Sie hätten sich damit abzufinden.

      ich Jawohl: indem ich sage, daß das religiöse Gefühl in der Gesamtheit der Zeit wurzelt; zu der gehört das Wissen. Wenn nicht das Wissen selbst problematisch ist, wird eine Religion, die bei dem Dringenden beginnt, sich um das Wissen nicht zu kümmern haben. Und es hat wohl kaum Zeiten gegeben, in denen das Wissen natürlicherweise problematisch angefochten war. Soweit haben es erst historische Mißverständnisse gebracht. – Und dieses modernste Problem, von dem die Blätter voll sind, entsteht, weil man sich nicht von Grund auf nach der Religion der Zeit fragt; sondern man fragt, ob eine der historischen Religionen in ihr noch Unterkunft finden könne, und wenn man ihr Arme und Beine abschnitte und den Kopf dazu. – Ich unterbreche mich hier – es ist ein weitläufiges Lieblingsthema.

      der freund Mir fällt ein Wort von Walter Calé ein. »Nach einer Aussprache glaubt man stets, das ›Eigentliche‹ nicht gesagt zu haben.« Vielleicht haben Sie jetzt ein ähnliches Gefühl.

      ich Das habe ich. Ich denke daran, daß eine Religion letzthin niemals nur Dualismus sein kann — daß die Ehrlichkeit und die Demut, von der wir sprachen, ihr sittlicher Einheitsbegriff ist. Ich denke daran, daß wir nichts über den Gott und die Lehre dieser Religion und wenig über ihr kultisches Leben sagen können. Daß das einzig Konkrete das Gefühl einer neuen und unerhörten Gegebenheit ist, unter der wir leiden. Ich glaube auch, daß wir schon Propheten gehabt haben: Tolstoi, Nietzsche, Strindberg. Daß schließlich unsere schwangere Zeit einen neuen Menschen finden wird. Neulich hörte ich ein Lied. So wie dieses schelmische Liebeslied es sagt, glaube ich an den religiösen Menschen.

      Daß doch gemalt all deine Reize wären

      Und dann der Heidenfürst das Bildnis fände:

      Er würde dir ein groß’ Geschenk verehren

      Und legte seine Kron’ in deine Hände.

      Zum rechten Glauben müßte sich bekehren

      Sein ganzes Reich bis an sein fernstes Ende.

      Im ganzen Lande würd’ es ausgeschrieben:

      Christ soll ein jeder werden und dich lieben.

      Ein jeder Heide flugs bekehrte sich

      Und würd’ ein guter Christ und liebte dich.

      Mein Freund lächelte skeptisch aber liebenswürdig und begleitete mich schweigend an die Haustüre.

      —————

      1913

      〈I.〉

      An zwei Stellen wird das Verhältnis des Unterrichts zu Werten, zu lebendigen Gegenwartswerten besonders deutlich werden: im Deutschen und in der Geschichte. Im Deutschen wird es sich vorwiegend um ästhetische, im Geschichtsunterricht um ethische Werte handeln. Zunächst ist das gleichgültig. Gefragt wird: wertet der Unterricht (und damit die Schule) überhaupt, und an welchem Ziele ist dies Werten orientiert? Es soll nicht behauptet werden, daß jeder der folgenden Fälle typisch sei. Aber es soll doch die Ansicht zugrunde gelegt werden, ein brauchbares System müsse gewisse äußerste Möglichkeiten ausschließen. Im folgenden einige dieser Möglichkeiten ohne Kommentar:

      In einer Obersekunda werden eine Anzahl Gedichte Walthers von der Vogelweide in der Ursprache gelesen. Sie werden übersetzt und einige werden auswendig gelernt. Das alles nimmt eine Reihe von Unterrichtsstunden in Anspruch. Der Ertrag dieser Stunden für den Schüler in ästhetischer Hinsicht ist die beständig wiederkehrende Äußerung des Lehrers, im Gegensatz zu Homer verwende Walther keine Flickwörter.

      Einige Äußerungen, die den ästhetischen Standpunkt Goethe gegenüber bezeichnen: »Goethe ist überhaupt ganz realistisch, man muß nur verstehen, was er meint.« Oder: »Es ist das Eigentümliche in Goethes Werken, daß jedes Wort seinen Sinn hat, und zwar meist einen schönen, passenden.«

      Oder: In einer höheren Klasse werden die Nibelungen in der Übersetzung, darauf in der Ursprache gelesen; ein bis zwei Abschnitte bilden die häusliche Lektüre; sie werden im Unterrichte nacherzählt. Nachdem so die Übersetzung durchgenommen ist, wird das Lied vom Lehrer in der Ursprache aus dem Lesebuche, das auch die Schüler vor sich haben, vorgelesen und teilweise übersetzt, teils durch Übersetzungsanleitungen kommentiert. Solche Durchnahme dauert kaum unter einem halben Jahre; und damit ist dann die Lektüre dieser Dichtung durchaus erschöpft. Auf den inneren Gehalt wird schlechterdings mit keinem Worte eingegangen.

      Entsprechend kann sich die Schulbehandlung von »Hermann und Dorothea« gestalten. Es werden im Unterricht Stunde für Stunde in gemeinsamer Arbeit Dispositionen angefertigt (die jedoch stets auf die vom Lehrer gewünschte hinauslaufen); eine dieser Dispositionen folgt:

      «4. Gesang: Euterpe.

      I. Die Mutter sucht den Sohn:

      a) auf der Steinbank,

      b) СКАЧАТЬ