Название: Schweizer Tobak
Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783907301005
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1955 wurde Lorenz Gramper zum zwölften Mal Vater. Maria brachte ihr letztes Kind, Julia, zur Welt. Kurze Zeit danach begann Felix, der dritte Sohn, seine Lehre als Zimmermann und der 16-jährige Franz, der um alles in der Welt Bauer werden wollte, kam zu Melch auf den Hof. Er blieb auch nach der Lehre, zum Leidwesen des Knechts, beim Melch. Franz brachte neue Ideen von der Schule, die dem Knecht kaum je passten, dem Melch aber schon. Der Alltag auf dem Hof änderte sich. Franz wurde zu einem harten Arbeiter. Er riet schon während der Ausbildung unter anderem zur Pflanzung von Niederstamm-Obstbäumen. Melch war skeptisch, gab aber dem Drängen nach. Franz drängte auf eine Melkmaschine und setzte auch den Kauf eines Traktors mit modernem Pflug durch. Melch war kein armer Mann, auch nicht geizig, er fürchtete sich aber vor den schwierigen Zeiten, die kommen könnten.
Doch Franz setzte ihm auseinander, der Hof müsse für die Zukunft gerüstet sein, er, der Melch und sein Knecht, der ohnehin schon ein wenig Behinderte, würden älter und der Einsatz moderner Hilfsmittel daher unumgänglich. Ein später möglicher Pächter müsse vermutlich die ganze Arbeit alleine machen.
Franz war durch die Bauernschule nicht nur zu einem modernen Landwirt, sondern auch zu einem hervorragenden Handwerker geworden. In den Wintermonaten gingen sie daran, Franz› Pläne zum Umbau der Scheune umzusetzen, betonierten Fundamente und Böden. Die Balken und Bretter für die neue Holzwand, den grösseren Heuboden und das erweiterte Dach lieferte die Zimmerei, in der der von seiner Wanderschaft zurückgekehrte Zimmermann Felix arbeitete.
Felix half selbst in jeder freien Stunde mit, Melchiors Vieh eine verbesserte Unterkunft zu bieten, wie er es nannte. Dabei fasste er den Entschluss, ein eigenes Haus zu bauen.
In Bremen hatte er am Ende seiner Wanderschaft nach der Lehre als Zimmermann Hannelore geheiratet, die mit ihm in die Schweiz gekommen war. Ein grosses schönes Haus wollte er bauen, ohne eine Ahnung zu haben, wie er dies schaffen würde. Sie würden Kinder haben, er und Hannelore, dachte er, während er half, Melch die Scheune umzubauen. Als die Balken der vergrösserten Scheune aufgerichtet waren und auf dem First am aufgesteckten kleinen Tännchen die bunten Bänder flatterten, erzählte er von seinem Traum, dem eigenen Haus für Hannelore und die kommenden gemeinsamen Kinder.
Zwei Sommer später, als Hannelore schwanger war, bot Melchior dem jungen Paar im Bärenzopf ein Stück für ihn beinahe unbrauchbares Land mit den Grundmauern eines einst abgebrannten Hauses, aber an recht reizvoller Lage an der Grenze zu Wirrwil an, dies als Lohn für die Arbeit an seiner Scheune, zu einem Preis, den die beiden bezahlen konnten. Hannelore war nicht mit leeren Händen gekommen. Auch die Mutter in Bremen wollte den beiden gut und hatte nachgeholfen.
1963 ertrank Melchiors jüngster Sohn Alois mit dem älteren seiner beiden Enkel auf dem See. Dieses Unglück traf ihn bedeutend härter als alles zuvor.
Melch machte im Jahr darauf den 24-jährigen Franz Gramper zum Pächter des Hofs. Wiederum gemeinsam erneuerten und erweiterten sie das Wohnhaus um eine kleine Wohnung.
Luckys Glück
Während der Umbauarbeiten wurden erstmals seit Jahrzehnten alle Schränke, Kommoden und Truhen ausgeräumt. Melchior, der sich dieser Arbeit hauptsächlich annahm, warf beinahe achtlos alles weg, was ihm an altem Krempel in die Hände fiel. Es war reiner Zufall, dass nicht er, sondern Franz auf einen an den Waisenvogt des Dorfes adressierten, aber offensichtlich nicht zum Versand gebrachten vergilbten Briefumschlag aufmerksam wurde.
Er dachte sich nicht viel, als er ihn aufbrach und aus lauter Neugier zu lesen begann. Geschrieben worden war er von Emma, Lukas› Mutter, vermutlich kurz bevor sie starb. Sie sorgte sich um die Zukunft ihres ersten Sohnes, falls sie sterben sollte und bat den Empfänger, sich nach ihrem Tod um Lukas zu kümmern, denn sie wisse nicht, ob ihr Mann dazu in der Lage sein würde oder dies wirklich wolle.
Dieser Bitte und den Zweifeln gegenüber ihrem Mann folgte kurz und klar die traurige Geschichte von dem Verbrechen, das ihr Vater ihr angetan hatte. Göpf war nicht nur ihr eigener, sondern auch Lukas› Vater. Sie vermochte die Blutschande nicht offen zu legen, fürchtete sich auch vor ihrem Vater und fasste Mut, als Melch ihr versprochen hatte, ein guter Mann zu sein.
Die alte Stine hatte das Geheimnis gekannt, die Gefahr geahnt und versucht, ihr Grosskind zu schützen und kam doch zu spät. Es war Stines Idee gewesen, Melch zur Annahme des Kindes und zur Heirat mit Emma zu überreden und ihm dafür das Erbe der Familie in Aussicht zu stellen. So würde er zu einer guten Partie kommen, früher oder später sein eigener Herr sein und nicht als elender kleiner Knecht auf Lebzeiten für sein notgedrungen sehr bescheidenes Auskommen rackern müssen. Was weder die Stine noch der Göpf wussten: Melch mochte Emma, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte.
Franz fühlte sich durch diesen Brief überfordert. Sein erster Impuls war, ihn zu vernichten. Er fürchtete jedoch, auf Dauer mit dem Wissen nicht ruhig leben zu können. Er wollte auch nicht mit Melch darüber reden. Er besprach sich mit Felix und der meinte, der Brief gehöre dorthin, wo die Emma ihn hatte haben wollte. Er steckte ihn kommentarlos in einen grösseren Umschlag ohne Absender und brachte ihn zur Post.
Der zuständige Gemeinderat bestellte Melch zu einem Gespräch. Der alte Melch soll, so später das Gerücht, nach diesem Treffen stundenlang geweint haben.
1967 verkaufte Melchior den Stadelhof an Hannes Brand. Franz, inzwischen Vater zweier Kinder, könne Pächter bleiben, schlug der neue Besitzer vor und versprach, in den kommenden Jahren mehr Land zu kaufen und eine neue richtig grosse Scheune bauen zu lassen.
Melch sicherte sich und Lukas mit dem Geld eine Rente. Er lebte noch fünf Jahre. 1971 verunglückte der 80-Jährige tödlich beim Holzschlag im Gemeindewald, er konnte nicht ohne Arbeit sein. Lukas starb kurz danach an Herzversagen, so schrieb es der Doktor als Ursache.
Wirrwil
Das Dorf war seit den Zeiten der Reformation und der Glaubenskriege die grösste Gemeinde der Region und beherbergte schon Anfang des 20. Jahrhunderts Dutzende grösserer und kleinerer Fabriken, in denen Zigarren gewickelt wurden. Daneben etablierten sich andere Industrien verschiedenster Branchen, die sich teilweise zu beachtlicher Grösse entwickelten. Auch hier waren die Löhne, besonders in den Anfängen, zwar bescheiden, doch leicht höher als in der Tabakbranche, denn diese Firmen beschäftigten mehrheitlich eine zwar nicht besonders ausgebildete, der schwereren körperlichen Arbeit wegen aber vorwiegend männliche Arbeiterschaft.
Somit lebte der Grossteil der Bevölkerung auch in diesem an sich industriefreundlichen Dorf überwiegend in sehr bescheidenen, wenn nicht ärmlichen Verhältnissen, in denen bis ins 20. Jahrhundert Kinderarbeit zum Alltag gehörte. Letzterer galt die Aufmerksamkeit der Doktorandin Clara Wirth aus Sankt Gallen, deren Dissertation die Kinderarbeit in der gesamten Region zum Thema hatte. Ihr hätte der Name Schmauchtal mit Sicherheit gefallen, doch leider hatte sie die Erfindung der Studenten von Achstadt nicht erlebt.
Nicht zuletzt auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung und ihren Kindern war eine sehr einflussreiche, wenn nicht mächtige Kaste von Fabrikanten entstanden, die in prachtvollen Villen residierten, deren Damen sich von Mägden bedienen und von Stallknechten in Chaisen und später von Chauffeuren in Automobilen herumfahren liessen. Trotzdem konnte von feudalen Verhältnissen nicht die Rede sein. Im Gegenteil, der liberale Glaube an den Fortschritt und der weltoffene Geist der reformierten Unternehmer begründeten für ein ganzes Jahrhundert den Weg zu Prosperität nicht nur der Gemeinde, sondern der ganzen Region. Sie СКАЧАТЬ