Название: Schweizer Tobak
Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783907301005
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2003, ein Jahr nach der offiziellen Scheidung, starb Andrés Mutter in der Schweiz im Schmauchtaler Altenheim. Obwohl sie ihr Haus, in dem sie ihr Leben verbracht hatte, nicht mehr bewohnen konnte, hatte sie sich geweigert, es zu verkaufen. Andrés älterer Bruder Konrad war vor Jahren in Brasilien umgekommen und die kinderlose Schwester Elisabeth, die älteste der drei Geschwister, seit einigen Jahren Witwe, wohnte im Haus in München, in dem sie mit ihrem nach einem schweren Krebsleiden verstorbenen Mann ihr Leben verbracht hatte, sie war am Elternhaus nicht interessiert.
Seit dem Begräbnis seiner Mutter spielte André mit dem Gedanken, seine Jahre als Rentner in der Schweiz zu verbringen. Eigentlich hielt ihn in Paris nichts mehr wirklich zurück. Er hatte viele Kollegen, vielleicht auch Freunde, ihm gefielen die Stadt, das Gefühl von Freiheit und das unermüdlich pulsierende Leben in ihr, doch fühlte er sich nicht als Franzose. Frankreich war nicht seine Heimat. Seine Heimat waren der See und die Dörfer seiner Kindheit.
Am 6. Juni 2004, an seinem 60. Geburtstag, bereiteten ihm seine Studentinnen, Studenten, Kolleginnen und Kollegen einen beinahe rührenden Abschied. Hätte er nicht schon alles in die Wege geleitet, er würde vielleicht gezögert haben, nur wenige Tage danach wegzufahren. Der Leiter des Instituts hielt eine kurze Rede, in der er die Brücke zu den grossen Feierlichkeiten in Erinnerung an die Landung der Alliierten in der Normandie vor 60 Jahren und seinem Geburtstag schlug und meinte, auch André habe einen grossen Beitrag zur Überwindung der Feindschaft und Vernarbung der Wunden zwischen Deutschland und Frankreich geleistet. André selbst hatte diesen Zufall nie übersehen, ihn aber nie zum Anlass genommen, darüber zu reden.
Er verliess die Stadt nicht ganz ohne Wehmut. Hunderten, eher Tausenden von jungen Leuten hatte er während rund 30 Jahren mit mehr oder weniger Erfolg seine Muttersprache zu vermitteln versucht, ihnen von einer für sie fremden Kultur erzählt, über die elenden Kriege gesprochen, die Deutschland und Frankreich immer wieder entzweit und auch in fast allen Ländern Europas unaufhörlich jeder Generation alles zerstört hatten. Er hatte versucht, ihnen die grosse Idee von Europa als Friedensprojekt verständlich zu machen und sie dafür zu begeistern. Er hatte mit ihnen geistige Streifzüge durch Geschichte, Völker, Bücher, Bilder und Landschaften dieses Kontinents unternommen, während er auch Rechtschreibung, Interpunktion, Grammatik und Semantik vermittelte, unregelmässige Verben und Flexionen paukte, in einem Land, in dem diese Sprache nicht zu den beliebtesten zählte. Zugegeben, er konnte wenig tun, aber das Wenige hatte er getan. Viele dieser jungen Leute schrieben ihm auch nach 20 und mehr Jahren Grusskarten zu Weihnachten und Neujahr.
Andererseits wurde ihm durch die Trennung und Scheidung von Miriam erst bewusst, wie wenig Menschen in diesem Land zu seinen Freunden zählten. Es gab Dutzende wunderbarer Kollegen und Kolleginnen, gute Bekannte im Haus, in dem sie durch all die Jahre gelebt hatten, doch Letztere waren alle keine Freunde, mindestens nicht seine Freunde, wenn schon, standen sie eher Miriam nahe. Das war für ihn eine bisweilen traurige Einsicht, und sie beförderte seine Idee, das Land zu verlassen. Vielleicht war es auch seine noch immer spürbare Fremdheit gewesen, die Miriam letztlich bewogen hatte, die Scheidung zu suchen.
Es half ihm nichts, wenn Miriam ihm vorhielt, sein Fremdsein sei allein seine Schuld, er hätte sich eben um Freundschaften zu wenig bemüht. Er konnte dies nicht nachvollziehen. Für ihn gab es, vermutlich durch seine Herkunft und letztlich trotz aller flüssigen Beherrschung auch durch die Sprache so etwas wie einen Graben. Dieser Graben trat immer wieder hervor, wenn von Deutschland oder von Europa die Rede war. Es half nichts, wenn er hin und wieder darauf hinwies, Schweizer zu sein. Die jungen Leute hatten ohnehin die Idee, «la Suisse» sei etwas Französisches und die Deutschschweiz so etwas wie ein Anhängsel, ein Unikum – négligeable. Er liebte Frankreich, vor allem Paris und seine Menschen, und wurde dennoch kein Franzose. Er kannte die Geschichte der Aufklärung und der französischen Revolution durch sein Studium besser und vertiefter als mehr oder weniger alle Leute seiner täglichen Umwelt, dennoch oder gerade deswegen blieben die Menschen dieses Landes – ausser seinen Studenten – auf einer durchaus respektvollen, von ihm jedoch oft bedauerten Distanz.
Ausser seinen vielen Büchern, ein paar Bildern und wenigen Dingen, die ihm durch die Jahrzehnte teuer geworden waren, liess er alles hinter sich. Die Möbel übernahmen die neuen, noch jungen Mieter seiner letzten bescheidenen Bleibe.
Er zog in das Haus, das seine Grosseltern gekauft hatten, als sie 1938 aus Deutschland zurück in die Schweiz kamen. André konnte sich im Gegensatz zu seinen Geschwistern nicht an seinen Grossvater erinnern, der im März 1945 kurz vor Hitlers Untergang gestorben war. Da war er neun Monate alt gewesen. Auch von seinem Vater wusste André nur, dass dieser kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner in München durch ein sogenanntes Volksgericht zum Tode verurteilt und unmittelbar danach erschossen wurde. Als Jugendlicher hatte ihn all das nur am Rand interessiert. Doch jetzt hatte ihn eine gewisse Neugier erfasst und er begann, Fotos aus seiner Jugend und seiner damaligen Umgebung zu suchen.
Mit seinen Geschwistern hatte André, seit er in Frankreich lebte, wenig Kontakt gehabt. Als er noch zur Schule ging, arbeitete seine neun Jahre ältere Schwester in den 50er Jahren als begeisterte Freundin Israels in einem Kibbuz. Dort lernte sie einen jungen deutschen Archäologen kennen, der als Idealist im Hinblick auf die schreckliche deutsche Vergangenheit etwas zur Versöhnung mit den Juden tun wollte. Sie lebte in den Zeiten Gamal Abdel Nassers vor dem «Krieg der sieben Tage» in Kairo, und später, inzwischen verheiratet, in Deutschland in der Nähe von München, nicht weit von dem Ort, an dem ihre Eltern gewohnt hatten, als sie klein gewesen war. Sie war lange den Spuren ihres Vaters nachgegangen, hatte sich darüber aber nie verbreitet. Das nicht nur, weil sie niemand danach gefragt, sondern auch, weil ihre Mutter bis zu ihrem Tod mit ihrer Geschichte gehadert hatte. Sie sollte ihren Frieden finden, fand Elisabeth.
Während André seinen «grossen» Bruder in gewisser Weise bewunderte, hatte er zu seiner Schwester damals eher ein gespaltenes Verhältnis gehabt. Sie behandelte ihn wie Mutter und Grossmutter, dabei war sie doch nur die Schwester. Ihretwegen musste er die Schuhe ausziehen, die Hände waschen, Klavier spielen, Schulaufgaben machen, er durfte am Tisch das Messer nicht in den Mund nehmen, nicht mit vollem Mund reden, hinter dem Hühnerstall kein Feuer machen und so weiter … Nicht einmal kühles Wasser aus Brunnenröhren durfte er trinken, ohne dass sie ihn kritisierte.
Dabei hatte sie angeblich in der Schule immer die besten Noten gehabt, war ins Gymnasium gegangen, konnte Orgel spielen und war doch so unaussprechlich dumm!
Später revidierte er sein Urteil stark, aber wirklich kennen gelernt hatte er seine Schwester nie, wie er Miriam sagte. «Vielleicht war sie wie du und ich habe dich als Zeichen der Versöhnung geheiratet», verstieg er sich Miriam gegenüber. Miriam fand die Idee nicht lustig.
Konrad, Andrés um sieben Jahre älterer Bruder, machte eine Lehre bei einem Tabakhändler auf Staregg. 1963 gab sein Patron, der beinahe 70-jährige Bernard Gruber, sein Geschäft auf. Die Aussichten für die Zukunft erschienen ihm alles andere als rosig, eine Zigarrenfabrik nach der anderen kam in Bedrängnis, und sein Sohn, der mögliche Nachfolger, befand sich in einer psychiatrischen Klinik mit einer schweren, vermutlich unüberwindlichen Schizophrenie. Durch seine Verbindungen sah der mehr und mehr verbitterte und rasch alternde Mann jedoch für Konrad eine einmalige Karrierechance bei einem Tochterunternehmen der British American Tobacco-Gruppe in São Paulo. Konrad lockte das Abenteuer, umso mehr, als das Land mit der neuen Hauptstadt Brasília in aller Munde war.
Er wanderte nach Brasilien aus und kam nur noch selten in die alte Heimat zu Besuch. Er schien dort eine gute Karriere gemacht zu haben. Mit 40 heiratete er eine beinahe 20 Jahre jüngere Brasilianerin, eine Studentin namens Silvia Brandao aus einem altehrwürdigen portugiesischen Geschlecht, wie er schrieb. Er lud seine Geschwister und die Mutter zur Hochzeit ein und bezahlte den Flug. Irma lehnte ab, sie war schon 70 СКАЧАТЬ