Schweizer Tobak. Albert T. Fischer
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Название: Schweizer Tobak

Автор: Albert T. Fischer

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783907301005

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      Zwar konnte er die Veränderungen der vergangenen 50 Jahre nicht übersehen, denn wo einst Wiese, Äcker und Obstbäume gewesen waren, standen neu ordentlich in Zeilen oder wild zerstreut Dutzende niedlicher Einfamilienhäuschen, doch die wesentlichen Merkmale aus seiner Kindheit ragten in seinen Augen noch immer heraus: Drüben der spitze Kirchturm der katholischen Kirche von Kreuzach mit der Fabrik von Brand-Cigars, sozusagen über ihm an der sanften Flanke zum Heimberg die Schlossruine Staregg mit den unübersehbaren Gebäuden der Star-Tabak und zwischen dem Haus und dem See das Dorf Wirrwil mit dem hervorstechenden alten Schulhaus und der reformierten Kirche. Unübersehbar waren auch die von Norden nach Süden verlaufenden Schienen der Eisenbahn und die Hauptstrasse.

      Was André vergeblich suchte, war der Kreuzbach, der die beiden Dörfer so eindeutig getrennt hatte. Offensichtlich war er in der Zwischenzeit in Röhren gefasst, zugeschüttet und darüber eine Strasse zur Erschliessung der neuen Häuser gebaut worden. Der gefasste Bach mündete nicht mehr direkt in den See, er übernahm jetzt die Abwässer der beiden Dörfer und führte sie zur Reinigungsanlage.

      André hatte bei einer Nachbarin die Schlüssel geholt, die drei Jahre lang ab und an nach dem Haus geschaut hatte. Anfänglich war die Mutter noch gelegentlich aus dem Altenheim gekommen, um durch die Räume zu gehen und sich für eine Weile in den Garten zu setzen. Diesen liess sie bis zu ihrem Tod von einem Gärtner einigermassen in Ordnung halten. Einer Putzfrau gab sie Geld und bat sie, ab und zu den gröbsten Staub zu wischen und die Nachbarin war bereit, hin und wieder eine Kontrollrunde zu machen. Der Dorfelektriker versah einzelne Lampen mit Zeitschaltern, um eventuelle Einbrecher abzuschrecken.

      Um keinen Preis wollte Andrés Mutter das Haus vermieten oder verkaufen. Sie ging so damit um, als ob sie eines Tages zurückginge und wieder einziehen wollte. Noch am letzten Jahresende vor ihrem Tod kaufte sie alle Zutaten, um ebenso wie in den letzten 50 Jahren ihr Weihnachtsgebäck zu backen.

      In jenem Winter erkrankte sie an einer Lungenentzündung, von der sie sich nicht mehr erholte und an deren Folgen sie im Frühling starb. Zum Begräbnis waren neben André, Corinne und Nadine zu seinem Erstaunen auch Miriam und seine Schwester Elisabeth gekommen, aber niemand aus Brasilien, kein Brief, keine Karte, kein Anruf. André und Elisabeth hatten sich danach Vorwürfe gemacht, vielleicht hätten sie Irmas Enkeln den Flug nach Europa bezahlen oder mindestens vorschiessen sollen. Elisabeth entschuldigte sich in einem Brief für die Unterlassung, doch da gab es offenbar kein Problem. Die Enkel meinten, sie hätten die alte Dame nicht gekannt und daher gar nicht daran gedacht, bei der Beerdigung dabei zu sein.

      Nach dem Begräbnis hatten André und Elisabeth einen Blick ins Haus geworfen, mehr nicht. Sie waren von der Situation überfordert und warteten die Testamentseröffnung ab. Irma hatte da und dort kleine Legate gemacht und im Übrigen ausdrücklich gewünscht, das Erbe je zu einem Drittel den beiden Geschwistern und den Enkeln in Brasilien zukommen zu lassen.

      Dies alles war, als André ins Haus zog, noch nicht endgültig geregelt. Da standen noch immer die Möbel aus seiner Jugend, mit Folien abgedeckt. Doch alles funktionierte, das Licht in den Räumen, der Herd in der Küche, im Keller sprang sogar die Heizung an. Er hätte sich sein Zimmer im kleinen Hotel sparen können. Ganz geheuer war ihm die Sache nicht. Er brauchte Zeit, um hier, wo seine Wurzeln lagen, sein Leben fortzusetzen. So hatte er gedacht, doch alles war viel einfacher.

      Nach zwei Tagen gab er das Hotelzimmer auf. Er hatte seine Habseligkeiten beim Spediteur abgerufen und war dann zur Gemeindeverwaltung gegangen. Dort hatte er sich über die moderne Einrichtung der Büros gewundert. Er wurde freundlich empfangen, der Gemeindeschreiber kümmerte sich persönlich um ihn. Er half ihm, einen Anmeldebogen auszufüllen. Sie sprachen über seine Papiere, er wusste nicht, wo sein Heimatschein steckte, seit 30 Jahren hatte er sich nicht darum gekümmert. Er hatte einfach seinen Schweizer Pass. Vermutlich lag der gesuchte Ausweis in der Stadt Bern. Der Gemeindeschreiber meinte, er würde sich darum kümmern. Er wollte auch wissen ob André reformiert oder katholisch sei, eine reine Formsache, es ginge um die Kirchensteuer. André war Atheist, das sagte er dem Mann freimütig und hatte dabei das Gefühl, nicht auf Anhieb verstanden worden zu sein, vielleicht, weil seine Mutter zur reformierten Gemeinde gehört hatte. Doch es kam keine Rückfrage, also war alles klar. Auf dem Zettel stand «Konfessionslos». Zum Abschied bekam André eine hübsche Broschüre, in der die Gemeinde und ihre gute Wohnqualität vorgestellt wurden.

      Danach besuchte André den Friedhof neben der Kirche, in der er einst konfirmiert worden war, er betrachtete nicht nur die Urnengräber, wo die Asche seiner Mutter bestattet wurde. Er durchwanderte mehr oder weniger den gesamten Garten, denn so kam ihm die Anlage vor, anders als die grossen Friedhöfe, diese steinernen Nekropolen, der Grossstadt. Er suchte nach Verstorbenen, die er noch aus seiner Jugend kannte. Zu seinem Erstaunen entdeckte er nur wenige. Wo waren denn all die Menschen hingegangen, die er in seiner Kindheit als ältere Leute wahrgenommen hatte? Er hatte das Dorf vor über 40 Jahren verlassen. Die hiesige Regel gewährte den Verstorbenen 25 Jahre Grabruhe, wie ihm eine Frau erklärte, die ihren kürzlich verstorbenen Mann besuchte – genau das hatte sie gesagt.

      Irgendwie lag im Dorf alles weit auseinander. Beinahe eine halbe Stunde musste er gehen, um in der Bank ein Konto für seine Bezüge und Zahlungen zu eröffnen. Nachdem er sich auch bei der Post gemeldet hatte, um sicher zu gehen, dass ihn allfällige Briefe erreichen würden, kaufte er sich in einem erstaunlich grossen und modernen Laden einige Lebensmittel, ging zurück ins Haus und begann dort zu leben – allein und ohne Eile.

      Er nahm sich vor, ein Fahrrad zu kaufen, damit die Zeit für die Einkäufe zu kürzen und Ausflüge dem See entlang und durch die Landschaft machen zu können.

      Die kommenden Tage verbrachte er mit ausgedehnten Wanderungen. Nach und nach erinnerte er sich an all die Wege, die er als Kind und Schüler gegangen war, an die kleinen Streiche, die er mit anderen Buben gespielt hatte.

      Es war Sommer, eine wunderbare Zeit. Weit weg von der Bruthitze der Grossstadt fühlte er sich befreit und voller Frieden. An einzelnen Stellen reichte der Wald vom Heimberg bis ans Seeufer. Da setzte er sich in den Schatten und liess seine Augen über die stille Wasserfläche gleiten, freute sich an der leichten Brise, und versuchte, sich an die kleinen Dörfer und Plätze am gegenüberliegenden Ufer zu erinnern.

      Seine gesamte Kindheit hatte er mit seiner Mutter, der Grossmutter und den für ihn damals so viel älteren Geschwistern hier über dem sich von Norden nach Süden ausdehnenden See und dem langgezogenen Dorf mit seinen Dutzenden von kleinen und grösseren Fabriken verbracht. Die diesseitigen angrenzenden Dörfer waren damals noch klar auszumachen, insbesondere zwischen Wirrwil und Kreuzach gab es diesen breiten, tiefen Graben, den er bei tiefem Wasserstand verbotenerweise mit anderen Jungen immer wieder durchwatete, nach Kröten oder gar Fröschen absuchte und in dem sie sich ab und zu mit den Buben aus Kreuzach heftig stritten. Die Kreuzacher Buben wirkten auf ihn immer etwas seltsam. Deren Kniehosen waren länger und sie mussten jeden Sonntag zur Kirche gehen. Das wusste er von Felix.

      Diese Kirche mit dem schönen Turm hatte den Jungen – damals hatten ihn alle Andreas gerufen – immer wieder angezogen, aber er gehörte nicht dazu, er war nicht katholisch. Die Kirche stand direkt neben der Fabrik, in der seine Mutter arbeitete und er ging daran vorbei, wenn er Tante Helene besuchte. Hin und wieder warf er einen Blick in die ihm seltsam fremde Welt der Katholischen.

      Während der Zeit der Sekundarschule hatten er und Felix’ jüngerer Bruder Peter ein Stück weit den gleichen Schulweg. Von ihm liess er sich die ewigen Wahrheiten und Geheimnisse der Papstkirche erklären. Peter glaubte an die Vergebung der Sünden, an die Verwandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut seines Erlösers und an Hölle, Fegefeuer und Himmel. Der Junge war so überzeugt, dass André begann, sich ernsthaft um sein eigenes Seelenheil Sorgen zu machen. Doch seine Mutter wies ihm ihren Weg, meinte, er sei ein Reformierter und schickte ihn in den Konfirmandenunterricht. Sie hielt nichts vom katholischen Tingeltangel. Der allmächtige Gott, zu dem man betete, СКАЧАТЬ