Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke
Автор: Eduard von Keyserling
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962814601
isbn:
Sie blickte zur Türe hinüber. Sollte sie fortgehen? Es war ja doch ihr Kind, sie durfte sich nicht fürchten. »Ich will es küssen«, sprach sie laut vor sich und beugte sich auf die Leiche herab. Die welkenden Rosen- und Jasminblüten atmeten einen starken süßen Duft aus, und – dann noch – – – Nein! Dieses starre, gelbe Gesichtchen mit seinen dunklen Flecken auf der Wange erfüllte Rosa mit unsäglichem Grauen. »Ich will es aber küssen!« wiederholte sie und fasste krampfhaft mit zitternden Händen den Rand der Wiege. »Ach du mein armer, armer Engel! Ich liebe dich doch. Vor dir sollte ich mich fürchten? Glaube das nicht! Wenn du auch tot bist, ich werde nie aufhören, dich zu lieben!« Und sie drückte ihre Lippen fest auf die kalte Stirn des Kindes, dann aber entfernte sie sich mit bebenden Knien. Sie öffnete das Fenster, der Duft der Blumen, die Schwüle des Gemaches erstickten sie. Das Fensterkreuz mit beiden Armen umschlingend, beugte sie sich hinaus.
Die Julinacht war schwarz und still, zuweilen nur regte sich ein sanftes Rauschen, das an große, kühle Fernen voll feuchten Duftes gemahnte. Diese verhüllte Welt erschien Rosa unendlich weit, hier konnte sie sich hineinverlieren und verstecken. Auf das Zimmer und seine Pein blickte sie nicht mehr zurück. Sie ließ sich vom Winde die Stirne kühlen, die Nacht tat ihr wohl mit ihrer Unergründlichkeit, durch die es wie ein Hauch – wie eine Stimme irrte, die eintönig und klagend »weit – weit« vor sich hinzusingen schien.
Unten im Wohnzimmer wurde es auch still. Grethe stieg die Treppe herauf, schaute durch das Schlüsselloch zu Rosa herein und begab sich in ihre Kammer. Sie anderen schliefen wohl auch schon, der Grog mochte für die ganze Nacht nicht ausgereicht haben.
Der Morgen dämmerte. Im Zwielichte standen Bäume und Häuser in nüchterner Farblosigkeit da. Der Himmel wurde weiß, einige Wolken färbten sich rot; in den Birkenwipfeln, an den Dachfirsten sprühten rötliche Lichter auf – endlich kam die Sonne. Blendendes Licht ergoß sich über die Ebene, allenthalben entbrannte ein rücksichtsloses Leuchten, die Wiese voll blühender Gräser nahm einen rotbraunen Metallglanz an, und die Wölkchen, welche die Nacht über in festen Ballen am Himmel gehangen hatten, wurden zerrissen und als weiße Flocken über das Blau gestreut.
Mit heißen, verweinten Augen blickte Rosa in den Tag hinaus, das ausgelassene, lebensfrohe Ausströmen von Helligkeit tat ihr weh. Sie hätte gewünscht, alles wäre dunkel und schweigend geblieben. Sie war zu Ende, und draußen fing alles wieder von neuem an. Dennoch blieb sie am Fenster stehen, feindselig zuschauend, wie sich die anderen zum neuen Tage anschickten.
Aus dem Grase stiegen Lerchen auf. An den Häuserecken bauten Schwalben. Eine Herde zog die Straße entlang, der Hirt folgte ihr, verschlafen den Hut über die Stirn ziehend. Gegenüber, in der Schmiede, öffnete die bleiche Schmiedsfrau Fenster und Türe und begann ihre Schwelle zu kehren. Der Postbote ging vorüber, auf das Land hinaus; die schwarze Ledertasche baumelte über seinem Bauche hin und her; er gähnte; den Mund weit dem Sonnenscheine öffnend, blieb er vor der Schmiedfrau stehen und sprach mit ihr.
Ein Bursche kam auf das Böhksche Haus zu. War das nicht Grethes Georg? Recht rosig, die Mütze auf einem Ohr, pfiff er laut vor sich hin und trug etwas unter dem Arm. Jetzt schellte er an der Haustüre, ihm ward geöffnet, im Flur wurden Stimmen laut, man stieg die Treppe hinan, öffnete Rosas Tür. »Leg es dorthin, Georg«, erklang Frau Böhks Stimme. »Liebes Kind, Sie hätten besser getan, ein wenig zu schlafen. Der Schreiner hat den Sarg geschickt; recht hübsch blau angestrichen. Sehen Sie doch!«
Auf einem Stuhl neben der Wiege stand der Sarg, klein und bunt wie ein Spielzeug. »Jetzt müssen Sie mit hinuntergehen, etwas essen«, fuhr die Hebamme fort. »Hier oben besorgt die Leb alles. Um neun Uhr müssen wir auf dem Friedhof sein, sonst geht uns der Pfarrer durch. Er kommt ohnehin nur im Vorüberfahren zu uns.« Rosa ließ sich fortführen. Die qualvoll durchwachte Nacht raubte ihr jede Willenskraft. Was nun um sie her vorging, drang nur als Bild zu ihr, das keine unmittelbare Beziehung auf sie zu haben schien.
Im Hause war alles voller Geschäftigkeit. Heute zum ersten Mal fiel es Rosa auf, dass bei Böhks beständiger Lärm herrschte und dass die Leute ganz ohne ersichtlichen Zweck durch die Zimmer schossen. Plötzlich hieß es, es sei die höchste Zeit; man musste zum Friedhof eilen. »Kommen Sie«, sagte Frau Böhk und nahm Rosas Arm so fest unter den ihren, als fürchte sie, Rosa könne ihr entlaufen. Vor der Haustür mussten sie auf die Leb und Herrn Böhk warten, die noch oben beschäftigt waren. Endlich stieg Herr Böhk die Treppe herab, unter dem Arm trug er den Sarg. Die Leb folgte ihm, beladen mit Blumen. Rosa wurde unruhig: »Oh, bitte, geben Sie es mir. Halten Sie es nicht so«, flehte sie. Frau Böhk drückte Rosas Arm fester an sich und drängte zum Gehen.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Voran ging Herr Böhk mit dem Sarge, neben ihm die Leb. Auf ihren Armen türmten sich Rosen- und Jasminkränze bis an ihr spitzes Kinn auf. Ihnen folgten Rosa und Frau Böhk; als letzte ging Grethe. Hans war daheim geblieben, denn er fürchtete sich vor dem Sarge. Die Hitze war drückend in der engen, menschenleeren Gasse, СКАЧАТЬ