Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
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Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

Автор: Eduard von Keyserling

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier

isbn: 9783962814601

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СКАЧАТЬ sie den­ken. Das lie­be klei­ne We­sen! Wie sor­gen­voll es die Stir­ne kraus zog, wenn sie es an die Brust leg­te! Wie eng und warm es sich an­schmieg­te und da­bei be­stän­dig die win­zi­gen Fuß­spit­zen be­weg­te. Ja – ihr ge­hör­te es, ihr ganz al­lein. Sie woll­te es so er­zie­hen, dass sie es nie zu stra­fen brauch­te. Es wäre ihr un­er­träg­lich, wenn Ernst je ein ähn­li­ches Ge­fühl ge­gen sie he­gen könn­te, wie sie es ge­gen Fräu­lein Schank, Ag­nes, so­gar ge­gen ih­ren Va­ter ge­hegt hat­te, wenn die­se sie ta­del­ten. Sie wür­de mit ih­rem Soh­ne dort un­ten an der Wie­se in dem wei­ßen Häu­schen le­ben, mun­ter und ka­me­rad­schaft­lich wie Freun­din­nen, die die Fe­ri­en mit­ein­an­der ver­brin­gen. Nie durf­te Ernst sich vor ihr fürch­ten, nie er­schro­cken zu an­de­ren Kin­dern sa­gen: »Sie kommt«, oder gar: »Die Alte kommt!« Nie! Rosa hob den Kopf auf und blick­te ent­setzt auf die schwar­ze Wie­ge. Sie fand sich in die frem­de fei­er­li­che Ge­gen­wart nicht mehr hin­ein, und noch heiß von müt­ter­li­chen Lie­bes­ge­dan­ken, wur­de sie wie­der in das wir­re, grau­sa­me Ban­gen zu­rück­ge­wor­fen. Das Kind war ja nicht mehr, war ir­gend­wo an ei­nem un­be­kann­ten, un­er­reich­ba­ren Orte – ganz al­lein. Bleich bis in die Lip­pen, zwi­schen den Au­gen­brau­en eine auf­rech­te Fal­te, er­hob sich Rosa und trat an die Wie­ge her­an. Von Ro­sen und Jas­min be­deckt, lag die klei­ne Lei­che da, nur das Ge­sicht war zu se­hen, ein run­des, wachs­gel­bes Ge­sicht­chen – der Mund eine fei­ne bläu­li­che Li­nie, die Nase dünn wie Pa­pier, über den Au­gen­li­dern bläu­li­che Schat­ten. Den­noch lag in die­sen nur an­ge­deu­te­ten Zü­gen eine frem­de Herb­heit. Auf der einen Wan­ge be­merk­te Rosa einen dunklen Fleck. Sie fuhr zu­rück, von Grau­en und Ab­scheu über­wäl­tigt, und ver­zog ihr Ge­sicht, als woll­te sie wei­nen.

      Sie blick­te zur Türe hin­über. Soll­te sie fort­ge­hen? Es war ja doch ihr Kind, sie durf­te sich nicht fürch­ten. »Ich will es küs­sen«, sprach sie laut vor sich und beug­te sich auf die Lei­che her­ab. Die wel­ken­den Ro­sen- und Jas­min­blü­ten at­me­ten einen star­ken sü­ßen Duft aus, und – dann noch – – – Nein! Die­ses star­re, gel­be Ge­sicht­chen mit sei­nen dunklen Fle­cken auf der Wan­ge er­füll­te Rosa mit un­säg­li­chem Grau­en. »Ich will es aber küs­sen!« wie­der­hol­te sie und fass­te krampf­haft mit zit­tern­den Hän­den den Rand der Wie­ge. »Ach du mein ar­mer, ar­mer En­gel! Ich lie­be dich doch. Vor dir soll­te ich mich fürch­ten? Glau­be das nicht! Wenn du auch tot bist, ich wer­de nie auf­hö­ren, dich zu lie­ben!« Und sie drück­te ihre Lip­pen fest auf die kal­te Stirn des Kin­des, dann aber ent­fern­te sie sich mit be­ben­den Kni­en. Sie öff­ne­te das Fens­ter, der Duft der Blu­men, die Schwü­le des Ge­ma­ches er­stick­ten sie. Das Fens­ter­kreuz mit bei­den Ar­men um­schlin­gend, beug­te sie sich hin­aus.

      Die Ju­li­nacht war schwarz und still, zu­wei­len nur reg­te sich ein sanf­tes Rau­schen, das an große, küh­le Fer­nen voll feuch­ten Duf­tes ge­mahn­te. Die­se ver­hüll­te Welt er­schi­en Rosa un­end­lich weit, hier konn­te sie sich hin­ein­ver­lie­ren und ver­ste­cken. Auf das Zim­mer und sei­ne Pein blick­te sie nicht mehr zu­rück. Sie ließ sich vom Win­de die Stir­ne küh­len, die Nacht tat ihr wohl mit ih­rer Uner­gründ­lich­keit, durch die es wie ein Hauch – wie eine Stim­me irr­te, die ein­tö­nig und kla­gend »weit – weit« vor sich hin­zu­sin­gen schi­en.

      Un­ten im Wohn­zim­mer wur­de es auch still. Gre­the stieg die Trep­pe her­auf, schau­te durch das Schlüs­sel­loch zu Rosa her­ein und be­gab sich in ihre Kam­mer. Sie an­de­ren schlie­fen wohl auch schon, der Grog moch­te für die gan­ze Nacht nicht aus­ge­reicht ha­ben.

      Der Mor­gen däm­mer­te. Im Zwie­lich­te stan­den Bäu­me und Häu­ser in nüch­ter­ner Farb­lo­sig­keit da. Der Him­mel wur­de weiß, ei­ni­ge Wol­ken färb­ten sich rot; in den Bir­ken­wip­feln, an den Dach­firs­ten sprüh­ten röt­li­che Lich­ter auf – end­lich kam die Son­ne. Blen­den­des Licht er­goß sich über die Ebe­ne, al­lent­hal­ben ent­brann­te ein rück­sichts­lo­ses Leuch­ten, die Wie­se voll blü­hen­der Grä­ser nahm einen rot­brau­nen Me­tall­glanz an, und die Wölk­chen, wel­che die Nacht über in fes­ten Bal­len am Him­mel ge­han­gen hat­ten, wur­den zer­ris­sen und als wei­ße Flo­cken über das Blau ge­streut.

      Mit hei­ßen, ver­wein­ten Au­gen blick­te Rosa in den Tag hin­aus, das aus­ge­las­se­ne, le­bens­fro­he Auss­trö­men von Hel­lig­keit tat ihr weh. Sie hät­te ge­wünscht, al­les wäre dun­kel und schwei­gend ge­blie­ben. Sie war zu Ende, und drau­ßen fing al­les wie­der von neu­em an. Den­noch blieb sie am Fens­ter ste­hen, feind­se­lig zu­schau­end, wie sich die an­de­ren zum neu­en Tage an­schick­ten.

      Aus dem Gra­se stie­gen Ler­chen auf. An den Häu­se­r­e­cken bau­ten Schwal­ben. Eine Her­de zog die Stra­ße ent­lang, der Hirt folg­te ihr, ver­schla­fen den Hut über die Stirn zie­hend. Ge­gen­über, in der Schmie­de, öff­ne­te die blei­che Schmieds­frau Fens­ter und Türe und be­gann ihre Schwel­le zu keh­ren. Der Post­bo­te ging vor­über, auf das Land hin­aus; die schwar­ze Le­der­ta­sche bau­mel­te über sei­nem Bau­che hin und her; er gähn­te; den Mund weit dem Son­nen­schei­ne öff­nend, blieb er vor der Schmied­frau ste­hen und sprach mit ihr.

      Ein Bur­sche kam auf das Böhksche Haus zu. War das nicht Gre­thes Ge­org? Recht ro­sig, die Müt­ze auf ei­nem Ohr, pfiff er laut vor sich hin und trug et­was un­ter dem Arm. Jetzt schell­te er an der Hau­stü­re, ihm ward ge­öff­net, im Flur wur­den Stim­men laut, man stieg die Trep­pe hin­an, öff­ne­te Ro­sas Tür. »Leg es dort­hin, Ge­org«, er­klang Frau Böhks Stim­me. »Lie­bes Kind, Sie hät­ten bes­ser ge­tan, ein we­nig zu schla­fen. Der Schrei­ner hat den Sarg ge­schickt; recht hübsch blau an­ge­stri­chen. Se­hen Sie doch!«

      Auf ei­nem Stuhl ne­ben der Wie­ge stand der Sarg, klein und bunt wie ein Spiel­zeug. »Jetzt müs­sen Sie mit hin­un­ter­ge­hen, et­was es­sen«, fuhr die Heb­am­me fort. »Hier oben be­sorgt die Leb al­les. Um neun Uhr müs­sen wir auf dem Fried­hof sein, sonst geht uns der Pfar­rer durch. Er kommt oh­ne­hin nur im Vor­über­fah­ren zu uns.« Rosa ließ sich fort­füh­ren. Die qual­voll durch­wach­te Nacht raub­te ihr jede Wil­lens­kraft. Was nun um sie her vor­ging, drang nur als Bild zu ihr, das kei­ne un­mit­tel­ba­re Be­zie­hung auf sie zu ha­ben schi­en.

      Im Hau­se war al­les vol­ler Ge­schäf­tig­keit. Heu­te zum ers­ten Mal fiel es Rosa auf, dass bei Böhks be­stän­di­ger Lärm herrsch­te und dass die Leu­te ganz ohne er­sicht­li­chen Zweck durch die Zim­mer schos­sen. Plötz­lich hieß es, es sei die höchs­te Zeit; man muss­te zum Fried­hof ei­len. »Kom­men Sie«, sag­te Frau Böhk und nahm Ro­sas Arm so fest un­ter den ih­ren, als fürch­te sie, Rosa kön­ne ihr ent­lau­fen. Vor der Haus­tür muss­ten sie auf die Leb und Herrn Böhk war­ten, die noch oben be­schäf­tigt wa­ren. End­lich stieg Herr Böhk die Trep­pe her­ab, un­ter dem Arm trug er den Sarg. Die Leb folg­te ihm, be­la­den mit Blu­men. Rosa wur­de un­ru­hig: »Oh, bit­te, ge­ben Sie es mir. Hal­ten Sie es nicht so«, fleh­te sie. Frau Böhk drück­te Ro­sas Arm fes­ter an sich und dräng­te zum Ge­hen.

      Der Zug setz­te sich in Be­we­gung. Voran ging Herr Böhk mit dem Sar­ge, ne­ben ihm die Leb. Auf ih­ren Ar­men türm­ten sich Ro­sen- und Jas­min­krän­ze bis an ihr spit­zes Kinn auf. Ih­nen folg­ten Rosa und Frau Böhk; als letz­te ging Gre­the. Hans war da­heim ge­blie­ben, denn er fürch­te­te sich vor dem Sar­ge. Die Hit­ze war drückend in der en­gen, men­schen­lee­ren Gas­se, СКАЧАТЬ