Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
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Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

Автор: Eduard von Keyserling

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier

isbn: 9783962814601

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СКАЧАТЬ so weit of­fen, wie Rosa es bei ihm bis­her nie ge­se­hen hat­te. – »Mein Gott!« stöhn­te Rosa. Sie ging zur Türe, rief nach Frau Böhk, nahm dann das Kind auf ihre Knie, als sie es an­fass­te, wand es sich je­doch hin und her. Die ro­ten Pup­pen­händ­chen fuh­ren hilf­los em­por, und in der klei­nen Brust koch­te es. Mit den Fü­ßen stemm­te sich das Kind ge­gen Ro­sas Arm, und der gan­ze Kör­per ar­bei­te­te, als woll­te er sich auf­rich­ten. Rosa beug­te sich tief auf ihr Kind nie­der und sah es an. Vor die­ser stum­men Qual wur­de sie mut­los und ge­dan­ken­los. Alle Ener­gie ih­rer Lie­be ver­ließ sie. Sie war­te­te. Von ir­gend­wo­her muss­te doch Hil­fe kom­men! »Gott, es stirbt ja!« sag­te je­mand ne­ben ihr. Sie schlug die Au­gen auf, de­ren Blau ganz dun­kel vor Ent­rüs­tung und Er­re­gung wur­de. Frau Böhk und Gre­the stan­den in der Türe: »Wer sagt es Ih­nen, dass es stirbt?« frag­te Rosa mit zit­tern­der tiefer Stim­me. »Das wird es nicht!« Wie um ihr Kind zu schüt­zen, beug­te sie sich wie­der auf das­sel­be nie­der und be­deck­te es mit ih­ren blon­den Haa­ren. »Nein! Nie­mand soll sa­gen, dass es stirbt!«

      Frau Böhk zuck­te ver­le­gen die Ach­seln: »Ein Bad könn­te man ver­su­chen«, mein­te sie, »ob­gleich wohl kaum noch zu hel­fen sein wird.« Als sie aber das Kind neh­men woll­te, keuch­te die­ses und zuck­te zu­sam­men, als fürch­te es sich. »Las­sen Sie es nur!« rief Rosa hef­tig und ließ den Vor­hang ih­rer Haa­re dich­ter auf das Kind nie­der­fal­len. »Sie glau­ben ja, dass es stirbt. Ge­hen Sie, ich will es al­lein pfle­gen.« Frau Böhk wich zu­rück und blieb mit Gre­the stumm auf der Tür­schwel­le ste­hen. Rosa ach­te­te nicht dar­auf, ganz hin­ge­nom­men von dem ver­zwei­fel­ten Kampf, den der hilflo­se Kin­der­kör­per auf ih­ren Kni­en kämpf­te.

      Die Hän­de des Kin­des be­weg­ten sich un­si­cher und matt, als woll­ten sie et­was fort­schie­ben, ab­weh­ren. An den Mund­win­keln war wei­ßer Schaum, und die Au­gen fleh­ten angst­voll zu Rosa em­por. Was konn­te sie tun? Das war die ent­setz­li­che Pein, die ihr das Herz ab­drück­te, dass sie ohn­mäch­tig vor der bit­tern Not ih­res Kin­des stand. Das arme klei­ne We­sen, das noch kei­nen Schmerz kann­te, wur­de ganz al­lein ei­nem dun­keln, grau­sa­men Et­was ge­gen­über­ge­stellt, mit ihm zu rin­gen. Das Klei­ne, das sich vor sei­nen ei­ge­nen Hän­den fürch­te­te, soll­te ein­sam den dun­kels­ten, un­heim­lichs­ten Weg ge­hen, und sei­ne Mut­ter muss­te mü­ßig zu­se­hen, muss­te es dem Tode über­las­sen. Dazu misch­te sich in das über­mäch­ti­ge Er­bar­men der mensch­li­che egois­ti­sche Ab­scheu vor dem Tode. Rosa hat­te es nie ge­se­hen, wie ein Mensch stirbt, und jetzt mach­te sich eine schmerz­li­che Neu­gier gel­tend. Rosa ver­folg­te ge­nau jede Be­we­gung des Kin­des, als lese sie in den krampf­haft zu­cken­den Zü­gen et­was von dem Ge­heim­nis des To­des, das sie mit schau­dern­dem Er­stau­nen er­füll­te.

      Sehr stil­le war es im Zim­mer ge­wor­den; nur ein ganz lei­ses Geräusch war hör­bar, wie das Pras­seln ei­ner Nacht­lam­pe, die ver­lö­schen will. Das war das Rö­cheln des Kin­des. End­lich ver­stumm­te auch die­ses. Das Kind be­weg­te sei­nen Kopf hin und her, wie tau­melnd, zuck­te mit den Hän­den, streck­te sich und lag be­we­gungs­los da.

      Frau Böhk wink­te Gre­the mit den Wim­pern zu, und bei­de ent­fern­ten sich auf den Fuß­spit­zen. Rosa blick­te un­ver­wandt den Kör­per an, der jetzt steif in ih­ren Ar­men lag. Was sich eben voll­zo­gen hat­te, dach­te sie nicht klar; nur die eine Emp­fin­dung war in ihr wach: »Das Kind ist nicht mehr da, es ist fort – ist ir­gend­wo ver­las­sen und al­lein im Fins­tern, und ich kann nicht zu ihm.« Die Span­nung ih­res Geis­tes ließ nach, ihre Glie­der wur­den lose und weich. Es war ihr, als sän­ke sie un­auf­halt­sam in einen Ab­grund nie­der; sie durf­te nicht nach­ge­ben – sie ver­ließ et­was – sie gab et­was auf; und doch – wie konn­te sie wi­der­ste­hen? Es tat ihr wohl. Im­mer tiefer – fin­st­rer – stil­ler. Ihr to­tes Kind in den Ar­men hal­tend, den Kopf an die Wand ge­lehnt, ver­sank Rosa in einen ohn­mäch­ti­gen Schlum­mer.

      Fünftes Kapitel

      Frau Böhk be­ab­sich­tig­te im Wohn­zim­mer einen klei­nen Ka­ta­falk auf­zu­schla­gen, die Lei­che des Kin­des auf dem­sel­ben in Blu­men zu bet­ten und mit vier Ker­zen zu be­leuch­ten. Herr Böhk hat­te für die Ker­zen hüb­sche Rin­ge aus Sil­ber­pa­pier ver­fer­tigt. »So kön­nen wir dort sit­zen; für das lie­be Klei­ne be­ten. Die Leb wird auch kom­men. Die Nacht vor dem Lei­chen­be­gäng­nis wa­chen wir na­tür­lich. Grog wer­de ich schon be­sor­gen; das ge­hört sich. Spä­ter be­rech­nen wir uns, dass ich nicht zu Scha­den kom­men wer­de, das weiß ich.«

      Auf die­se Vor­schlä­ge ant­wor­te­te Rosa in ih­rer mü­den, ab­we­sen­den Wei­se, die sie seit dem Tode ih­res Soh­nes an­ge­nom­men hat­te: »Ich dan­ke Ih­nen, Frau Böhk, Sie sind sehr freund­lich. Das Kind aber dür­fen Sie aus mei­nem Zim­mer nicht fort­neh­men.«

      »Wa­rum denn nicht?« sag­te die Heb­am­me ein­dring­lich, »hier un­ten wird sich al­les viel bes­ser ma­chen. Die Blu­men, das schwarz aus­ge­schla­ge­ne Gerüst, die Ker­zen. Den­ken Sie sich nur, wie hübsch das sein wird!«

      »Ja, sehr hübsch! Aber aus mei­nem Zim­mer dür­fen Sie das Kind nicht fort­neh­men.«

      Was war ge­gen sol­chen Ei­gen­sinn zu tun? Frau Böhk woll­te es ver­su­chen, auch oben al­les so an­stän­dig wie mög­lich her­zu­rich­ten, ob­gleich mit der en­gen Kam­mer kein großer Staat zu ma­chen war. Die Wie­ge wur­de mit schwar­zem Tuch be­han­gen, mit Blu­men be­steckt; die Ker­zen mit ih­ren Rin­gen aus Sil­ber­pa­pier stan­den ne­ben­an auf der Kom­mo­de. Was zu ma­chen war, ge­sch­ah; den­noch sah es nicht be­son­ders aus.

      Am Abend ver­sam­mel­ten sich die Haus­ge­nos­sen um die Kin­des­lei­che. Stumm, mit ge­fal­te­ten Hän­den, sa­ßen sie auf ih­ren Stüh­len und nick­ten mit den Köp­fen. Die Leb neig­te sich an Frau Böhks Ohr her­an und flüs­ter­te: »Wie ein En­gel sieht es aus. Ganz un­ver­än­dert.« Rosa barg ihr Ge­sicht in ihr Ta­schen­tuch und wein­te. Wenn sie zu­wei­len auf­blick­te, be­ka­men die Flam­men der Ker­zen krau­se Strah­len, und die An­we­sen­den neig­ten die Köp­fe auf die Sei­te und schau­ten Rosa mit­lei­dig an, als er­war­te­ten sie et­was von ihr. Frau Böhk und die Leb wisch­ten sich dann die Au­gen, Herr Böhk war un­ru­hig, flüs­ter­te mit den Frau­en, ging knar­rend ab und zu; end­lich lehn­te er sich ge­gen die Wand, steck­te die rech­te Hand in den Aus­schnitt sei­ner Wes­te und stimm­te einen Cho­ral an. Alle san­gen mit, den Mund weit öff­nend, die Hän­de im Schoß ge­fal­tet; dar­auf las Herr Böhk ein Ge­bet vor. Rosa merk­te nicht auf die Wor­te, nur der ge­tra­ge­ne, be­trüb­te Ton­fall be­ein­druck­te sie, sie schau­te auf und in­ter­es­sier­te sich da­für, was die an­de­ren ta­ten: jetzt be­te­ten sie, ein je­der still für sich; die Leb schiel­te da­bei be­stän­dig zu Rosa her­über; jetzt flüs­ter­ten sie mit­ein­an­der: »Kom­men Sie, et­was zu neh­men«, sag­te Frau Böhk zur Leb. Die­se nick­te und deu­te­te auf Rosa. »Lie­bes Kind«, wand­te sich die Heb­am­me an Rosa, »kom­men Sie, trin­ken Sie et­was für die Herz­stär­kung.«

      »Nein, ich dan­ke«, hör­te Rosa ihre ei­ge­ne Stim­me tief und kla­gend er­wi­dern, »ich will es nicht al­lein las­sen.« Die Leb blin­zel­te mit den Wim­pern und leg­te den Zei­ge­fin­ger auf die Stirn. Dann gin­gen sie alle ins Wohn­zim­mer hin­ab, um Grog zu trin­ken, in der Türe dräng­ten sie sich, СКАЧАТЬ