Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke
Автор: Eduard von Keyserling
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962814601
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»Ach ja!« erwiderte Rosa, aber der Schmerz um ein anderes Gut war noch zu mächtig in ihr, als dass sie um die stillen Tage der Vergangenheit trauern konnte.
Denselben Abend noch schrieb Rosa an Fräulein Schank und bat sie, ihr beizustehen. Fräulein Schank antwortete, sie wolle sich nach etwas Passendem umschauen und es Rosa dann melden.
Rosa wartete geduldig mehrere Tage. Eines Abends ging sie zum Friedhof hinaus, um das Grab ihres Vaters zu besuchen. Die Stadt hatte das bunte, lustige Aussehen der Sommerabende. In der Lindenallee, die zum Friedhof führte, begegnete Rosa vielen Menschen, die langsam mit bestaubten Schuhen, die Hände voller Feldblumen, heimzogen. Auch das Ehepaar Toddels ging an Rosa vorüber. Sally trug ein helles Sommerkleid und einen rosaseidnen Hut. Sie schielte zu Rosa hinüber und drängte sich schüchtern an ihren Mann heran, als fürchtete sie sich. Dieser wusste nicht recht, was er tun sollte, und küsste flüchtig und linkisch den rosaseidnen Hut.
Auf dem Friedhof war es so still, dass man die Schritte der wenigen Besucher deutlich auf dem Kies knirschen hörte. Über dem Grabe des Ballettänzers erhob sich ein schwarzes Kreuz, und viele Astern blühten dort. Nachdenklich stand Rosa davor. Endlich kniete sie nieder und betete; sie konnte aber nicht weinen, und das missfiel ihr. Hatte sie denn ihren Vater nicht geliebt? Wie sie jedoch so vor dem Grabhügel kniete, ergriff sie ein tiefes Mitleid ihrer selbst, sie beugte ihre Stirn in die Astern hinein und weinte bitterlich über sich selbst. –
Endlich eines Tages beschied Fräulein Schank Rosa zu sich. Rosa fand sich pünktlich ein. Fräulein Schank hatte soeben zu Mittag gegessen und eilte ihrer früheren Schülerin mit roter Nase und gerötetem Kinn entgegen.
»Guten Tag. Komm, bitte, hier herein«, sagte sie hastig und aufgeregt und führte Rosa in das Wohnzimmer.
In einer Ecke dieses Zimmers saß auf einem geräumigen Lehnsessel Fräulein Schanks Mutter, eine sehr alte, gelähmte Frau. Mit trüben gelben Augen starrte sie vor sich hin und verzog die Unterlippe, was ihrem Gesicht einen bösen, höhnischen Ausdruck verlieh.
»Rosa Herz, Mutter«, meldete Fräulein Schank. »Nimm Platz, Rosa«, fuhr sie in strengem Gouvernantenton fort, ihre gelblichen Wangen wurden jedoch ganz rot, und sie wollte die Unterredung durch eine zwecklose Geschäftigkeit noch hinausschieben. Das Erscheinen ihrer früheren Schülerin machte sie verlegen. Statt der durchtriebenen Rosa stand eine Frau vor ihr, die weder zerknirscht noch demütig aussah, sondern nur ernst und sehr schön, mit ihrer vollen Gestalt im schwarzen Kleide, mit den leuchtendroten Lippen im bleichen Gesicht und den feuchten großen Augen, die tiefer in das Leben hineingeschaut hatten als Fräulein Schank – trotz ihrer dreißig Jahre keuscher Schulweisheit.
»So – so! Du sitzt schon? Ich bin auch da«, sagte sie und setzte sich gerade auf ihrem Stuhl; dabei versuchte sie die betrübte, missbilligende Miene anzunehmen, die sie aufzusetzen pflegte, wenn eine Schülerin »wieder nicht präpariert« war; sie gelang ihr jedoch nicht. Mit ihren spitzen roten Bäckchen sah Fräulein Schank so befangen und hilflos aus, dass Rosa sich fragte: Was hat sie nur?
»Du siehst angegriffen aus«, begann Fräulein Schank und strich sich ihr Bandeau glatt. »Nicht wahr, Mutter, die Rosa sieht angegriffen aus?«
»Ja – ja«, erwiderte die Alte, »das ist die Streber.«
»Rosa Herz, Mutter – Herz –« verbesserte Fräulein Schank, die wieder ihre scharfe Art fand.
»Gute Tochter«, entgegnete die Alte und verzog höhnisch die Unterlippe, »ich weiß ja, dass der Streber weglief. Als ob ich das nicht wüsste!«
Fräulein Schank zuckte die Achseln, sie wollte ihre Mutter lieber gar nicht beachten.
»Um auf unser Geschäft zu kommen«, wandte sie sich an Rosa, »so habe ich eine Stelle für dich. Sie ist aber weit von hier – in Moskau, und du müsstest gleich abreisen.«
»Ja – Fräulein Schank, ich danke Ihnen sehr.«
»Und der Streber schreibt gar nicht mehr?« warf die Alte ein und neigte ihr schiefes, höhnisches Gesicht auf die Schulter.
»Die Bedingungen sind gut«, fuhr Fräulein Schank fort. »500 Rubel Gehalt und das Reisegeld. Zwei Kinder sind da. Ein vornehmes, reiches Haus. Ich glaube, es dürfte dir konvenieren?«
»Gewiss! Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
»Wird denn der Kerl bis nach Russland gelaufen sein?« rief die alte Schank dazwischen.
»Ich hoffe«, schloss Fräulein Schank mit klagender Stimme, »du wirst dich dort einleben.« Tränen traten ihr in die Augen, und sie umarmte Rosa. »Gott behüte dich! Ich habe getan, was ich konnte.«
Als Rosa der alten Schank die Hand küssen wollte, hielt diese sie fest. »Adieu, liebe Streber, machen Sie sich nichts daraus, dass er Ihnen durchgegangen ist. Die Rosalie ließ auch so einer sitzen. Wir warten auf den Kerl heute noch. Wie heißt er doch – Rosalie? – Deiner? Du musst das wissen.«
»Mutter!« fuhr Fräulein Schank gereizt auf, »Rosa Herz ist’s – Rosa Herz.«
»Ach Gute! Ich weiß wohl, was ich sage. Ich kenne eure schmutzigen Geschichten ganz genau, nur der Name ist mir entfallen. Du hast aber deine Heimlichkeiten; das kenn ich schon!«
Somit war es entschieden, Rosa reiste ab. Weinend packte Agnes die Koffer. Um den Zug zu erreichen, musste Rosa um neun Uhr abends die Stadt verlassen. Der Postwagen hielt vor der Türe, und der Hausknecht band die Koffer auf. Agnes nahm Rosa noch einmal in die Arme und flüsterte ihr gute Lehren ins Ohr: »– und dann, Kind, nimm dich in acht. Die Russen sind gottlose Leute, und du weißt, wie hübsch du bist. Warte, bis einer dich recht lieb hat und bis du ihn auch liebhaben kannst, dann heirate ihn. Aber warte; glaube mir, Kind, das ist besser.«
»Ja, Agnes, das ist besser.«
Der Gedanke, sie könnte noch einmal jemand recht liebhaben, machte dieses liebesdurstige Frauenherz für einen Augenblick ganz warm, und Rosa lächelte.
Als sie aber im Wagen saß und durch die СКАЧАТЬ