Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
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Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

Автор: Eduard von Keyserling

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier

isbn: 9783962814601

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СКАЧАТЬ raub­te. Sie konn­te in ih­rer Kam­mer oder im Wohn­zim­mer am Fens­ter sit­zen, auf die Wie­se oder auf den Hof hin­aus­schau­en, sie konn­te Frau Böhks Kran­ken­ge­schich­ten oder Herrn Böhks Lie­bes­ge­schich­ten an­hö­ren, konn­te mit Gre­the spa­zie­ren­ge­hen, um zu­zu­hö­ren, wie die Bur­schen und Mäd­chen un­ter den Bir­ken am Bach bis spät in die Nacht hin­ein Lie­bes­lie­der san­gen; es hat­te nur, mein­te sie, nicht den ge­rings­ten Zweck; sie war da­bei ganz un­nütz. Sie hät­te ihr Le­ben ge­wiss un­gern fort­ge­ge­ben, was sie je­doch mit ihm be­gin­nen soll­te, wuss­te sie nicht. Da dach­te sie an ih­ren al­ten Va­ter. »Ag­nes schrieb«, sag­te sie zur Heb­am­me, »Papa sei krank. Seit­dem habe ich kei­ne Nach­richt von ihm. Ich fürch­te, es steht schlecht.«

      »So wis­sen Sie’s schon?« rief Frau Böhk. »Ag­nes schrieb mir über den zwei­ten Schlag­an­fall des al­ten Herrn. Ich durf­te es Ih­nen nicht sa­gen, Sie nähr­ten das Kind.«

      »Oh, Frau Böhk! Sa­gen Sie’s nur; Papa lebt nicht mehr.«

      »Nein, wahr­haf­ti­ger Gott, da­von weiß ich nichts. Recht schlecht stand es um ihn, aber…«

      Rosa schüt­tel­te den Kopf. Es schi­en ihr ganz na­tür­lich, dass, wo­hin sich ihre Lie­be auch wand­te, der Tod ihr ent­ge­gen­trat. Selt­sam je­doch war es, wie mit der Über­zeu­gung, ihr Va­ter lebe nicht mehr, so­fort der Ge­dan­ke in ihr auf­tauch­te: »Wenn Papa auch tot ist, dann wird das Klei­ne dort – nicht mehr al­lein sein.« Die­se dunkle Vor­stel­lung ließ sie ru­hi­ger der Trau­er um ihre To­ten nach­hän­gen.

      Ei­nes Abends lang­te Ag­nes in Ti­glau an. Das schwar­ze Kleid, die schwar­ze Hau­be, die dem al­ten Ge­sicht et­was Frem­des ga­ben, die trä­nen­feuch­ten Au­gen, mit de­nen Ag­nes Rosa an­blick­te, ver­kün­de­ten deut­lich ge­nug, dass Rosa sich nicht ge­täuscht hat­te. »Ich weiß al­les; der arme Papa«, sag­te Rosa, als Ag­nes sie schluch­zend um­arm­te.

      Erst als sich bei­de im Gie­bel­stüb­chen zu Bett leg­ten, er­fuhr Rosa die Ein­zel­hei­ten über den Tod ih­res Va­ters.

      »Nach dem ers­ten Schlag­an­fall«, be­rich­te­te Ag­nes mit kla­gen­der Stim­me, »stand es schon sehr übel um dei­nen Papa. Er konn­te sei­ne Füße nicht ge­brau­chen, und sein Kopf, weißt du, war ganz schwach. Er ver­gaß im­mer wie­der, dass du nicht mehr bei uns bist. ›Wo ist die Rosa?‹ sag­te er ganz är­ger­lich. ›Es ist schon spät. Ag­nes, geh und hol sie.‹ Wenn ich’s nicht tat, zank­te er, wie er’s in ge­sun­den Ta­gen, weiß es Gott, nie tat. ›Wirst du nicht ge­hen?‹ sag­te er, ›wer ist hier der Herr? Wo­für wirst du be­zahlt?‹ End­lich wein­te er und klag­te: ›Weil ich ein Krüp­pel bin, glaubt ihr mich quä­len zu kön­nen.‹ Gott, Gott! Schwer ge­nug war die Zeit. Ich bin um zehn Jah­re äl­ter ge­wor­den. Nun – und ei­nes Mor­gens, wie ich ihn an­ge­klei­det habe und zu sei­nem Ses­sel füh­ren will, ver­dreht er die Au­gen und fällt rück­lings – der Schreck! Der Dok­tor kam, ließ ihm zur Ader – was weiß ich! Ge­nug ha­ben sie den al­ten Mann ge­quält. Aus dem Bett ist er nicht mehr ge­kom­men, aber das War­ten auf dich hör­te auf, denn er glaub­te, du seist da. Se­hen konn­te er nicht mehr recht; so sprach er denn im­mer mit dir. Was hat er dir in den letz­ten Ta­gen nicht al­les er­zählt! Er woll­te dich un­ter­hal­ten: ›Ro­sa – Kin­d‹, sag­te er, ›du lang­weilst dich. Hör, wie ich noch beim Thea­ter war‹, dann ka­men sei­ne gott­lo­sen Thea­ter­ge­schich­ten. Da­bei wur­de ihm das Spre­chen schwer. In sei­ner Brust koch­te es nur so. Heu­te vor acht Ta­gen lag er den Tag über wie in ei­ner Ohn­macht. Der Dok­tor sag­te, es geht zu Ende. Um zehn Uhr reg­te er sich, ver­lang­te zu trin­ken, frag­te: ›Wo ist Rosa?‹ – ›Das ist sie ja‹, sag­te ich; was soll­te ich denn sa­gen? – ›So – so‹, ant­wor­te­te er und er­zähl­te wie­der et­was; ich hab es nicht ver­stan­den, sei­ne Stim­me war so schwach. Wie er mit der Ge­schich­te zu Ende ist, sag­te er: ›Kind, warum lachst du nicht?‹ – ›Sie lacht ja‹, sag­te ich. ›Nein – nein!‹ jam­mer­te er. ›Sie lacht nicht; sie kennt die Ge­schich­te schon!‹ Das wa­ren sei­ne letz­ten Wor­te. Nach­her lag er still da und seufz­te, bis der Tod kam. Recht an­stän­dig ha­ben wir ihn be­stat­tet, die Leu­te aus der Stadt wa­ren alle da­bei. Dir schrieb ich von all­dem nichts. Ich dach­te mir, du hältst so­viel Not auf ein­mal nicht aus. Ach Gott! So jung und so­viel Bit­te­res er­le­ben zu müs­sen.«

      Rosa, die ihr Ge­sicht in die Kis­sen ge­drückt hat­te, rich­te­te sich auf und sag­te: »Ja, sehr viel Bit­te­res. Du hast das Kind nicht ge­kannt. Du weißt nicht, wie es mich lieb­te, mich kann­te, wie es nur bei mir sein woll­te.«

      Wäh­rend Rosa von ih­rem Kin­de er­zähl­te, nahm Ag­nes eine stren­ge Mie­ne an. Sie hielt den Tod die­ses Kin­des für kein Un­glück. »Schlaf, Kind«, un­ter­brach sie Ro­sas Be­richt. »Wir wer­den alle un­se­re Kräf­te nö­tig ha­ben.«

      Am Vor­mit­tage des fol­gen­den Ta­ges saß Rosa, wie sie es lieb­te, im Gar­ten auf der Schau­kel­bank und be­trach­te­te die son­nen­be­schie­ne­nen Nar­zis­sen­bee­te. Am ge­öff­ne­ten Fens­ter des Wohn­zim­mers sa­ßen Frau Böhk und Ag­nes, steck­ten die Köp­fe zu­sam­men und flüs­ter­ten. Ab und zu drang ein lau­ter ge­spro­che­nes Wort bis zu Rosa – eine Zahl oder Frau Böhks mit sü­ßer Stim­me ab­ge­ge­be­ner Pro­test. »Nein, Schwes­ter, nein. Ich hab’s so wohl­feil wie mög­lich ein­ge­rich­tet.« – »Sie be­rech­nen sich«, dach­te Rosa.

      Jetzt er­zähl­te Ag­nes et­was, nick­te mit dem Kop­fe, wisch­te sich die Au­gen. »Wenn wir die Sa­chen auch ver­kau­fen«, hör­te Rosa sie sa­gen, »wie­viel kann denn doch da­bei her­aus­kom­men? Bei all die­sen Krank­hei­ten kön­nen wir Gott dan­ken, dass wir nicht in Schul­den hin­ein­ge­ra­ten sind. Nun – und wenn ich auch mit ihr hier­her­zie­he – dort kann sie na­tür­lich nicht blei­ben –, auch dann reicht das Geld nicht. Ich habe nicht viel, sie hat we­nig. Gott – Gott, wie soll das wer­den!«

      »Wie ist das?« sag­te sich Rosa, bog den Kopf zu­rück, blin­zel­te in die Son­ne und über­leg­te: »Ich habe kein Geld, und Ag­nes will mich er­hal­ten, so meint sie es doch? Ja, das darf aber nicht sein; na­tür­lich nicht!… Was dann?« Die Bon­ne der Schank war die ein­zi­ge Aus­hil­fe, das war klar. »Mor­gen fah­ren wir heim«, be­schloss Rosa. Ein Be­dürf­nis zu han­deln er­griff sie. Sie ging in das Wohn­zim­mer und sag­te: »Mor­gen, Ag­nes, fah­ren wir heim.«

      »Mor­gen?« rie­fen die bei­den Schwes­tern er­staunt aus.

      »Ja, Ag­nes – es muss et­was ge­sche­hen.«

      Da blick­ten sich die bei­den Frau­en ver­ständ­nis­in­nig an und mein­ten: »Recht hat das Kind.«

      Siebentes Kapitel

      Rosa hat­te ge­glaubt, die Rück­kehr in ihre Hei­mat­stadt wür­de sie er­grei­fen. Als sie je­doch bei ein­bre­chen­der Dun­kel­heit durch die wohl­be­kann­ten Stra­ßen fuhr, fühl­te sie kei­ner­lei Er­re­gung. Al­les war un­ver­än­dert. Ein je­des stand auf sei­nem al­ten Platz, und Rosa schau­te ru­hig dar­auf hin, als wäre sie nie fort ge­we­sen.

      In der Herz­schen Woh­nung war eine dump­fe, hei­ße Luft ein­ge­schlos­sen. Der Lehn­stuhl am Tisch stand ein we­nig schief, als hät­te je­mand ihn eben ver­las­sen, auf СКАЧАТЬ