Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke
Автор: Eduard von Keyserling
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962814601
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Am Abend der Trennung gaben Rosa, Grethe und Georg, der Schreinergesell, Martha das Geleite. Martha trug ihr gewöhnliches blaues Kleid; um den Kopf hatte sie ein weißes Tuch geschlungen; ihre geringe Habe war in ein Bündel geschnürt. Grethe weinte und fragte ihre Schwester immer wieder, ob sie auch genug zum essen mit auf den Weg genommen habe. »Ach, da war auch der Käse, den der Georg mir gestern brachte, dass ich dir den nicht mitgegeben habe! Georg, lauf nach Hause…«
»Nein, lass es nur!« sagte Martha. »Ich habe selbst einen Käse mitgenommen.«
»Solche Birken gibt es wohl drüben nicht«, bemerkte Georg, wies auf das Birkenwäldchen und lachte verlegen.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Martha.
Die Wiese hatten sie quer durchschritten und näherten sich den Pappeln. »Weiter darf das Fräulein nicht gehen«, meinte Martha.
Sie nahmen Abschied. Martha küsste alle, auch Georg. Niemand weinte. Die Feierlichkeit des Augenblickes bedrückte diese einfachen Menschen und machte sie befangen. So wurde denn der Abschied kurz und wortarm.
Als Martha fortging, wandte sie sich noch einmal um, lächelte und sagte: »Grüßt mir den Onkel, und den Hans auch. Behüte euch Gott.« Die anderen schauten ihr eine Weile nach, dann gingen auch sie heim. Grethe drückte ihr Gesicht fest an den grauen Rockärmel ihres Schreinergesellen und schluchzte. Sterne standen schon am Himmel, ganz blass und silbern in der Dämmerung der Frühlingsnacht. Drüben in den Birken schlugen zwei Nachtigallen, und in der Ferne hörte man abgerissene Töne eines Liedes. Rosa blieb stehen und horchte. War es nicht Martha, die sang? Dort ging sie ja. Hinter den Pappeln stand am Himmel noch ein Streifen milden Goldes; von diesem lichten Streifen hob sich Marthas Gestalt scharf ab; ihr Bündel in der Hand, das flatternde weiße Tuch auf dem Kopf, schwankte sie ein wenig beim Gehen – und von dort kamen die Töne. Rosa musste ihr nachschauen, bis sie in der Dämmerung verschwand. »Martha«, sagte sich Rosa, »geht mutig ihrer Liebe nach. Mir ist nie der Gedanke gekommen, meiner Liebe nachzugehen; ich habe ja auch nur jenes dumme Ding gekannt, das wir in der Schule ›verliebt sein‹ nannten. Nur, dass ich diese alberne Schulliebe ernster nahm als die anderen. Aber bei Martha – da ist’s schön!«
Frau Böhk erfuhr erst am nächsten Morgen Marthas Flucht. Anfangs sagte sie nur: »Hol sie der Kuckuck!« Plötzlich aber stieg ihr die Aufregung zu Kopf. Sie tobte gegen jeden, von dem sie annahm, er habe um Marthas Geheimnis gewusst; sie wollte sich sogar an die Gerichte wenden. Aber auch dieser Zorn verrauchte bald, und Marthas Name wurde von Frau Böhk nie mehr genannt.
Erstes Kapitel
Für Rosa begann jetzt ein wunderliches Pflanzenleben. Einem Gedanken zu folgen, sich einer Träumerei hinzugeben, wie sie es sonst wohl liebte, vermochte sie nicht mehr. Sie konnte nur still daliegen und in sich hineinhorchen. In ihrem Kasten hatte sie eine Flasche Rosenessenz entdeckt, die Ambrosius ihr einst verehrt hatte. Er liebte diesen Duft. Alles an ihm, sein Haar, sein Schnurrbart, seine Kleider dufteten nach Rosenessenz. Jetzt, als Rosa die Flasche fand, brachte dieser Duft ihr die alten Erinnerungen mit erschreckender Deutlichkeit wieder. Angewidert von den aufsteigenden Bildern, warf sie die Flasche beiseite und ging in den Garten hinab. Dort lag sie im Sonnenschein auf der Schaukelbank und starrte mit halbgeschlossenen Augen zum Himmel auf. Nach kurzer Zeit jedoch erfasste sie ein quälendes Verlangen nach dem schwülen Duft der Rosenessenz; er war ihr zuwider, und dennoch!… Sie musste wieder zu ihrer Kammer hinaufsteigen, die Türe schließen, als hätte sie etwas Unerlaubtes vor, und sich an dem süßen Duft berauschen, bis der Ekel ihr die Kehle zuschnürte und sie die Flasche übersatt fortwarf.
Dieses rein leibliche Leben, in das Rosa versank, bedrückte sie zuweilen; die Zeit wurde ihr lang. Sie musste beständig auf die Mahlzeiten warten, ins Haus hinüberhorchen, ob Grethe nicht schon mit den Tellern klapperte, musste nach der Uhr sehen, ob es nicht Schlafenszeit sei, und misslang eine Speise, auf die sie sich gefreut hatte, oder störte jemand ihre Bequemlichkeit, dann konnte sie vor Zorn weinen, als sei ihr schweres Unrecht zugefügt worden. Außer ihrem körperlichen Zustande verlor alles für Rosa an Interesse. Die Natur zwang sie, nur ihrer Frauenpflicht zu leben, nur des zukünftigen Kindes wegen da zu sein. In manchen Augenblicken ahnte Rosa das Geheimnis, das einen so großen Wandel über Geist und Körper brachte. Sie staunte darüber, und ihr ward ein wenig bang. Es war zu fremd und unbehaglich, sich selbst nicht mehr ganz anzugehören.
In einer Nacht – Ende Juni – fühlte Rosa heftige Schmerzen und rief nach Hilfe. Frau Böhk ward geholt, und diese sagte munter, als sie Rosa sah: »An die Arbeit – an die Arbeit.«
Viele Stunden hindurch quälte sich Rosa. Bewusstlos vor Schmerz, hatte sie stets das Gefühl, als müsste sie eine schwere Last mit aller Anstrengung weiterschieben; dann plötzlich verließen sie die Kräfte, eine große Ruhe kam über sie, und regungslos lag sie da. Sie hörte, wie man um sie flüsterte, leise ab und zu ging. Wenn sie die schweren Augenlider halb emporhob, sah sie die Dämmerung des Krankenzimmers von grellen Lichtstreifen durchzogen. Im fieberhaften Halbschlummer suchte sie diese Erscheinung zu ergründen, mühte ihren armen, schmerzenden Kopf mit der Frage ab: Wo kommen die Lichtstreifen her? Endlich fand sie die Energie, die Augen vollends aufzuschlagen, Nun erkannte sie, dass das Fenster mit Tüchern verhangen war und das Tageslicht sich zwischen denselben hindurchstahl. Ja – auch die Gegenstände im Zimmer unterschied sie jetzt deutlich. Dort – in der Ecke – saß jemand, eine kleine schwarze Gestalt. Ah, das war die Leb. Sie schlummerte, den Kopf zurückgebogen; ein Sonnenstrahl traf ihre flachen, rotbraunen Haarbänder an den Schläfen und die rotgeränderten, faltigen Augenlider. Ja – das war die Leb, denn Frau Böhk war so beschäftigt, dass sie ihre Kranken oft verlassen musste; dieser Satz klang Rosa noch von der Krebspartie her in den Ohren.
Neben Rosas Bett standen zwei Stühle dicht beieinander; ein Polster lag auf ihnen, Leinzeug und ein dichter weißer Schleier, der etwas bedeckte. Rosa blickte scharf hin. Was war das? Am Ende…! Freilich, irgendwo musste ja doch ein Kind sein, СКАЧАТЬ