Название: Der Aktionskreis Halle
Автор: Sebastian Holzbrecher
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Erfurter Theologische Studien
isbn: 9783429061265
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Bevor es im Herbst 1969 um Kandidaten und deren Wahl gehen konnte, musste ein tragfähiger Nominierungsmodus gefunden werden. Obwohl Wahlen für die katholische Kirche an sich kein Novum darstellten, ist eine derart breit angelegte Bischofswahl seit Jahrhunderten nicht praktiziert worden. Der Priesterrat und Weihbischof Rintelen sahen sich dabei in die Pflicht genommen. Der Vorschlag des Priesterrates wurde auf seiner Sitzung am 10. November verabschiedet und beinhaltete folgende Eckpunkte: Jeder Geistliche des Kommissariates Magdeburg sollte anonym einen oder mehrere Kandidatenvorschläge über den zuständigen Dechanten nach Magdeburg schicken. Die fünf Kandidaten mit den meisten Stimmen sollten dem Klerus bekannt gemacht und zur Wahl gestellt werden. Die Priester könnten schließlich anonym aus diesen fünf Kandidaten einen über die Dechanten wählen. Weihbischof Rintelen sollte mit zwei Vertretern des Priesterrates die Wahlzettel auswerten und unter strenger Geheimhaltung das Ergebnis an Kardinal Jaeger übermitteln.357 Weihbischof Rintelen hatte diesem Modus noch am selben Tag zugestimmt. Nachträglich waren ihm jedoch Bedenken gekommen und teils zugetragen worden.358 Ohne den Priesterrat nochmals mit dem Thema zu befassen, suspendierte der Weihbischof das Votum seines Beratergremiums und wandelte es am 29. November nach eigenem Ermessen ab.359 Ausschlaggebend für ihn war, dass die öffentliche Nominierung von fünf Kandidaten die Entscheidungsfreiheit des Heiligen Stuhls einengen könnte, sollte sich dieser für keinen der Vorgeschlagenen entscheiden können. Aufgrund einer Mitteilung von Kardinal Jaeger, dass mit der Ablösung Rintelens im Frühjahr 1970 gerechnet werden müsse, sah Weihbischof Rintelen nach eigenen Angaben keine Zeit mehr, sich mit dem Priesterrat abzustimmen.360 Darüber hinaus musste sich Friedrich Maria Rintelen gegenüber verschiedenen Standpunkten innerhalb des Presbyteriums positionieren. Über 100 Priester hätten sich gegen den Vorschlagsmodus des Priesterrates und gegen die zwischenzeitlich aufgekommene Forderung nach einer Vollversammlung des Klerus ausgesprochen.361 Stattdessen sollte die Kandidatenaufstellung entsprechend der Nomination eines Dechanten durch geheime, anonyme und direkte Wahlen erfolgen. Andere Priester hätten sich überhaupt gegen eine Beteiligung des Presbyteriums gestellt.362 Infolge der Bedenken und des Zeitdrucks entschied sich Rintelen für ein geheimes Votum entsprechend der Dechantenwahl, das er ohne Kommentierung nach Paderborn weiterleiten wollte.363 In der Anlage zu seinem Brief vom 29. November lag ein vorgefertigter offizieller Stimmzettel für alle Geistlichen des Kommissariates. Friedrich Maria Rintelen befürchtete bereits beim Verfassen seines Schreibens, dass diese kurzfristigen und eigenverantwortlichen Veränderungen auf Unverständnis treffen und Verärgerungen provozieren könnten. Die anschließenden Reaktionen der Mitglieder der Hallenser Gruppe kamen daher nicht unerwartet. Bereits am 1. Dezember verfasste der Nienburger Pfarrvikar Willi Verstege einen Brief an Rintelen, in dem er seiner Enttäuschung und Desillusionierung Ausdruck verlieh.364 Zwei Tage später lud ein Brief der Hallenser Gruppe für den 9. Dezember, einen Tag vor Rintelens 70. Geburtstag, zum Gespräch nach Nienburg ein.365 Die apodiktische Formulierung „Gespräch oder Spaltung, das ist die Alternative“ 366 löste heftige Reaktionen im Presbyterium aus und offenbarte seine innere Zerrissenheit. Die Hallenser Gruppe wandte sich einerseits gegen die Düpierung des Priesterrates durch Weihbischof Rintelen, der einen Beschluss von sich aus annulliert und damit die Verbindlichkeit der kurz zuvor errichteten Rätestrukturen grundsätzlich infrage gestellt hatte.367 Andererseits kritisierte man den geheimen und kleruszentrierten Wahlmodus und bat alle Priester, die verschickten Stimmzettel noch nicht auszufüllen.368 Das Treffen in Nienburg vermochte allerdings weder den Wahlmodus hinsichtlich einer Beteiligung der Laien zu ändern noch die Stellung des Priesterrates gegenüber dem Weihbischof zu stabilisieren. Es verzögerte lediglich die Abgabe der Stimmzettel und ließ eine letzte Meinungsbildung zu. Am 13. Dezember 1969 wählte das Presbyterium des Erzbischöflichen Kommissariates Magdeburg durch eine geheime Abstimmung drei Priester, die Kardinal Jaeger für seine Vorschlagsliste verwenden wollte.369
Der von Weihbischof Rintelen festgesetzte Wahlmodus erlaubte allerdings keine vorherige öffentliche Aufstellung von Kandidaten, sondern sah nur eine direkte und geheime Briefwahl des Klerus vor.370 Die fehlende Nominierungsmöglichkeit und die absolute Geheimhaltung der Ergebnisse verhinderten eine transparente Beurteilung der Wahl und leisteten so Spekulationen Vorschub, es sei zu Unregelmäßigkeiten gekommen.371 Nach Abgabe der Stimmen wurde das Ergebnis von Weihbischof Rintelen nach Paderborn geschickt.372 Lange Zeit existierten nur vage Vermutungen, welche Kandiaten aus der in dieser Form bislang einzigartigen Wahl hervorgegangen waren. Erst jüngste Quellenrecherchen im Nachlass des Paderborner Erzbischofs Lorenz Kardinal Jaeger geben nun zuverlässig Auskunft über die damaligen Vorgänge.
Auch wenn es offiziell zu keiner Nominierung kam, ergeben sich aus der Quellenlage verschiedene Kandidatenvorschläge. Zunächst sind die drei Professoren des Erfurter Philosophisch-Theologischen Studiums Lothar Ullrich, Franz-Peter Sonntag und Heinz Schürmann zu nennen.373 Sie dürften aufgrund ihrer Bekanntheit und ihrer theologischen Qualifikation ins Gespräch gebracht worden sein. Aussichtsreichster Kandidat unter diesen Dreien war sicher der international renommierte Exeget Heinz Schürmann, der als Paderborner Diözesanpriester selbst dem Magdeburger Presbyterium angehörte. Als Schürmann von seiner inoffiziellen Nominierung durch den Dechanten von Aschersleben Adolf Betz erfuhr374, wandte er sich in einem persönlichen Brief an den Paderborner Erzbischof.375 Schürmann brachte drei Argumente gegen seine Nomination vor: erstens sei er seit 23 Jahren der Seelsorge entzogen und die vielfältigen, vor allem kirchenpolitischen Herausforderungen eines solchen Amtes traute er sich nicht zu.376 Zweitens sei es zwischen 1957 und 1960 zu einem Erpressungsversuch durch das MfS gekommen.377 Schließlich habe er mit Weihbischof Aufderbeck gesprochen. Zusammen sei man zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Fortgang aus Erfurt schwierig sei, da mehrere Professoren an der Emeritierungsgrenze stünden. Zudem habe er den Ruf anderer Hochschulen stets abgelehnt, um in Erfurt arbeiten und lehren zu können.378 Die Antwort Kardinal Jaegers bestätigte zwar die aussichtsreiche Nominierung.379 Sie war aber zugleich geeignet, Schürmanns Befürchtungen, Erfurt verlassen zu müssen, weitgehend zu zerstreuen.380 Wenngleich auch andere Kreise des Magdeburger Klerus den Erfurter Neutestamentler favorisiert hatten, war seine Nominierung nicht unumstritten.381
Ein zweiter Name wurde von verschiedener Seite immer wieder für die Nachfolge Rintelens genannt: Prälat Johannes Braun. Als Leiter des Magdeburger Norbertuswerkes war er nicht nur der Magdeburger und Paderborner Diözesanverwaltung bekannt, er erfreute sich auch unter den Absolventen dieser Einrichtung großer Beliebtheit.382 Aufgrund der örtlich stark gebundenen Tätigkeit im Norbertinum schränkte sich seine Bekanntheit im Presbyterium jedoch auf einen überschaubaren Personenkreis ein. Zu diesem Kreis gehörte auch der Magdeburger Personalreferent und Sekretär des Weihbischofs, Prälat Heinz Jäger.383 In Vorbereitung auf die Wahl des Koadjutors engagierte sich Prälat Jäger offensichtlich besonders für seinen langjährigen Freund und Weggefährten.384 Gegen Jägers Protegé waren zu jener Zeit acht Karikaturen von Pfarrer Theo Mechtenberg in Umlauf gebracht worden, die Prälat Braun in Anspielung auf den gleichnamigen Hersteller von Rasierapparaten persiflierten.385 Mechtenberg wollte nach eigener Aussage durch die Zeichnungen und Verse zur „heilsamen Entkrampfung“386 der Situation beitragen, erreichte aber mit Kommentaren wie „Braun rasiert an allen kritischen Stellen“387 nicht selten das Gegenteil. Aufschlussreiche Informationen über die Nominierung Brauns ergeben sich auch aus dem Nachlass von Kardinal Jaeger. Sowohl der Spiritual des Magdeburger Norbertuswerkes Dieter Lehnert als auch der Magdeburger Pfarrer Heinrich Behrens und nicht zuletzt Friedrich Maria Rintelen selbst warben gegenüber dem Paderborner Erzbischof sowie dem Nuntius für Prälat Braun als neuen Magdeburger Weihbischof und trafen damit offensichtlich auch die Vorstellungen des Paderborner Kirchenfürsten.388 Jaeger selbst kannte Braun seit „seinen Gymnasialjahren in Dortmund“389 СКАЧАТЬ