Название: Dichtung und Wahrheit
Автор: Johann Wolfgang von Goethe
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Klassiker bei Null Papier
isbn: 9783962818869
isbn:
Mehrere Truppen zogen durch die Stadt; man erfuhr, dass sie bei Bergen halt machten. Das Kommen und Gehen, das Reiten und Laufen vermehrte sich immer, und unser Haus war Tag und Nacht in Aufruhr. In dieser Zeit habe ich den Marschall Broglio öfter gesehen, immer heiter, ein wie das andere Mal an Gebärden und Betragen völlig gleich, und es hat mich auch nachher gefreut, den Mann, dessen Gestalt einen so guten und dauerhaften Eindruck gemacht hatte, in der Geschichte rühmlich erwähnt zu finden.
So kam denn endlich, nach einer unruhigen Karwoche, 1759, der Karfreitag heran. Eine große Stille verkündigte den nahen Sturm. Uns Kindern war verboten, aus dem Hause zu gehen; der Vater hatte keine Ruhe und ging aus. Die Schlacht begann; ich stieg auf den obersten Boden, wo ich zwar die Gegend zu sehen verhindert war, aber den Donner der Kanonen und das Massenfeuer des kleinen Gewehrs recht gut vernehmen konnte. Nach einigen Stunden sahen wir die ersten Zeichen der Schlacht an einer Reihe Wagen, auf welchen Verwundete in mancherlei traurigen Verstümmelungen und Gebärden sachte bei uns vorbeigefahren wurden, um in das zum Lazarett umgewandelte Liebfrauenkloster gebracht zu werden. Sogleich regte sich die Barmherzigkeit der Bürger. Bier, Wein, Brot, Geld ward denjenigen hingereicht, die noch etwas empfangen konnten. Als man aber einige Zeit darauf blessierte und gefangne Deutsche unter diesem Zug gewahr wurde, fand das Mitleid keine Grenze, und es schien, als wollte jeder sich von allem entblößen, was er nur Bewegliches besaß, um seinen bedrängten Landsleuten beizustehen.
Diese Gefangenen waren jedoch Anzeichen einer für die Alliierten unglücklichen Schlacht. Mein Vater, in seiner Parteilichkeit ganz sicher, dass diese gewinnen würden, hatte die leidenschaftliche Verwegenheit, den gehofften Siegern entgegenzugehen, ohne zu bedenken, dass die geschlagene Partei erst über ihn wegfliehen müsste. Erst begab er sich in seinen Garten vor dem Friedberger Tore, wo er alles einsam und ruhig fand; dann wagte er sich auf die Bornheimer Heide, wo er aber bald verschiedene zerstreute Nachzügler und Troßknechte ansichtig ward, die sich den Spaß machten, nach den Grenzsteinen zu schießen, sodass dem neugierigen Wandrer das abprallende Blei um den Kopf sauste. Er hielt es deshalb doch für geratner, zurückzugehen, und erfuhr bei einiger Nachfrage, was ihm schon der Schall des Feuerns hätte klar machen sollen, dass alles für die Franzosen gut stehe und an kein Weichen zu denken sei. Nach Hause gekommen, voll Unmut, geriet er beim Erblicken der verwundeten und gefangenen Landsleute ganz aus der gewöhnlichen Fassung. Auch er ließ den Vorbeiziehenden mancherlei Spende reichen; aber nur die Deutschen sollten sie erhalten, welches nicht immer möglich war, weil das Schicksal Freunde und Feinde zusammen aufgepackt hatte.
Die Mutter und wir Kinder, die wir schon früher auf des Grafen Wort gebaut und deshalb einen ziemlich beruhigten Tag hingebracht hatten, waren höchlich erfreut, und die Mutter doppelt getröstet, da sie des Morgens, als sie das Orakel ihres Schatzkästleins durch einen Nadelstich befragt, eine für die Gegenwart sowohl als für die Zukunft sehr tröstliche Antwort erhalten hatte. Wir wünschten unserm Vater gleichen Glauben und gleiche Gesinnung, wir schmeichelten ihm, was wir konnten, wir baten ihn, etwas Speise zu sich zu nehmen, die er den ganzen Tag entbehrt hatte; er verweigerte unsre Liebkosungen und jeden Genuss und begab sich auf sein Zimmer. Unsre Freude ward indessen nicht gestört: die Sache war entschieden; der Königsleutnant, der diesen Tag gegen seine Gewohnheit zu Pferde gewesen, kehrte endlich zurück, seine Gegenwart zu Hause war nötiger als je. Wir sprangen ihm entgegen, küssten seine Hände und bezeigten ihm unsre Freude. Es schien ihm sehr zu gefallen. »Wohl!« sagte er freundlicher als sonst, »ich hin auch um euertwillen vergnügt, liebe Kinder!« Er befahl sogleich, uns Zuckerwerk, süßen Wein, überhaupt das Beste zu reichen, und ging auf sein Zimmer, schon von einer großen Masse Dringender, Fordernder und Bittender umgeben.
Wir hielten nun eine köstliche Kollation, bedauerten den guten Vater, der nicht teil daran nehmen mochte, und drangen in die Mutter, ihn herbeizurufen; sie aber, klüger als wir, wusste wohl, wie unerfreulich ihm solche Gaben sein würden. Indessen hatte sie etwas Abendbrot zurecht gemacht und hätte ihm gern eine Portion auf das Zimmer geschickt, aber eine solche Anordnung litt er nie, auch nicht in den äußersten Fällen; und nachdem man die süßen Gaben beiseite geschafft, suchte man ihn zu bereden, herab in das gewöhnliche Speisezimmer zu kommen. Endlich ließ er sich bewegen, ungern, und wir ahndeten nicht, welches Unheil wir ihm und uns bereiteten. Die Treppe lief frei durchs ganze Haus an allen Vorsälen vorbei. Der Vater musste, indem er herabstieg, unmittelbar an des Grafen Zimmer vorübergehn. Sein Vorsaal stand so voller Leute, dass der Graf sich entschloss, um Mehrers auf einmal abzutun, herauszutreten; und dies geschah leider in dem Augenblick, als der Vater herabkam. Der Graf ging ihm heiter entgegen, begrüßte ihn und sagte: »Ihr werdet uns und Euch Glück wünschen, dass diese gefährliche Sache so glücklich abgelaufen ist.« – »Keineswegs!« versetzte mein Vater mit Ingrimm: »ich wollte, sie hätten Euch zum Teufel gejagt, und wenn ich hätte mitfahren sollen.« – Der Graf hielt einen Augenblick inne, dann aber fuhr er mit Wut auf: »Dieses sollt Ihr büßen!« rief er, »Ihr sollt nicht umsonst der gerechten Sache und mir eine solche Beleidigung zugefügt haben!«
Der Vater war indes gelassen heruntergestiegen, setzte sich zu uns, schien heitrer als bisher und fing an zu essen. Wir freuten uns darüber und wussten nicht, auf welche bedenkliche Weise er sich den Stein vom Herzen gewälzt hatte. Kurz darauf wurde die Mutter herausgerufen, und wir hatten große Lust, dem Vater auszuplaudern, was uns der Graf für Süßigkeiten verehrt habe. Die Mutter kam nicht zurück. Endlich trat der Dolmetscher herein. Auf seinen Wink schickte man uns zu Bette: es war schon spät, und wir gehorchten gern. Nach einer ruhig durchschlafenen Nacht erfuhren wir die gewaltsame Bewegung, die gestern Abend das Haus erschüttert hatte. Der Königsleutnant hatte sogleich befohlen, den Vater auf die Wache zu führen. Die Subalternen wussten wohl, dass ihm niemals zu widersprechen war; doch hatten sie sich manchmal Dank verdient, wenn sie mit der Ausführung zauderten. Diese Gesinnung wusste der Gevatter Dolmetsch, den die Geistesgegenwart niemals verließ, aufs lebhafteste bei ihnen rege zu machen. Der Tumult war ohnehin so groß, dass eine Zögerung sich von selbst versteckte und entschuldigte. Er hatte meine Mutter herausgerufen und ihr den Adjutanten gleichsam in die Hände gegeben, dass sie durch Bitten und Vorstellungen nur einigen Aufschub erlangen möchte. Er selbst eilte schnell СКАЧАТЬ