Название: Dichtung und Wahrheit
Автор: Johann Wolfgang von Goethe
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Klassiker bei Null Papier
isbn: 9783962818869
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Kaum hatten also die Kisten und Kasten das Haus geräumt, als der früher eingeleitete, aber unterbrochne Betrieb, den Grafen zu entfernen, wieder angeknüpft wurde. Man suchte durch Vorstellungen die Gerechtigkeit, die Billigkeit durch Bitten, durch Einfluss die Neigung zu gewinnen und brachte es endlich dahin, dass die Quartierherren den Beschluss fassten: es solle der Graf umlogiert und unser Haus, in Betracht der seit einigen Jahren unausgesetzt Tag und Nacht getragnen Last, künftig mit Einquartierung verschont werden. Damit sich aber hierzu ein scheinbarer Vorwand finde, so solle man in eben den ersten Stock, den bisher der Königsleutnant besetzt gehabt, Mietleute einnehmen und dadurch eine neue Bequartierung gleichsam unmöglich machen. Der Graf, der nach der Trennung von seinen geliebten Gemälden kein besonderes Interesse mehr am Hause fand, auch ohnehin bald abgerufen und versetzt zu werden hoffte, ließ es sich ohne Widerrede gefallen, eine andere gute Wohnung zu beziehen, und schied von uns in Frieden und gutem Willen. Auch verließ er bald darauf die Stadt und erhielt stufenweise noch verschiedene Chargen, doch, wie man hörte, nicht zu seiner Zufriedenheit. Er hatte indes das Vergnügen, jene so emsig von ihm besorgten Gemälde in dem Schlosse seines Bruders glücklich angebracht zu sehen, schrieb einige Male, sendete Maße und ließ von den mehr genannten Künstlern verschiedenes nacharbeiten. Endlich vernahmen wir nichts weiter von ihm, außer dass man uns nach mehreren Jahren versichern wollte, er sei in Westindien, auf einer der französischen Kolonien, als Gouverneur gestorben.
Viertes Buch
So viel Unbequemlichkeit uns auch die französische Einquartierung mochte verursacht haben, so waren wir sie doch zu gewohnt geworden, als dass wir sie nicht hätten vermissen, dass uns Kindern das Haus nicht hätte tot scheinen sollen. Auch war es uns nicht bestimmt, wieder zur völligen Familieneinheit zu gelangen. Neue Mietleute waren schon besprochen, und nach einigem Kehren und Scheuern, Hobeln und Bohnen, Malen und Anstreichen war das Haus völlig wieder hergestellt. Der Kanzleidirektor Moritz mit den Seinigen, sehr werte Freunde meiner Eltern, zogen ein. Dieser, kein geborner Frankfurter, aber ein tüchtiger Jurist und Geschäftsmann, besorgte die Rechtsangelegenheiten mehrerer kleinen Fürsten, Grafen und Herren. Ich habe ihn niemals anders als heiter und gefällig und über seinen Akten emsig gesehen. Frau und Kinder, sanft, still und wohlwollend, vermehrten zwar nicht die Geselligkeit in unserm Hause, denn sie blieben für sich; aber es war eine Stille, ein Friede zurückgekehrt, den wir lange Zeit nicht genossen hatten. Ich bewohnte nun wieder mein Mansardzimmer, in welchem die Gespenster der vielen Gemälde mir zuweilen vorschwebten, die ich denn durch Arbeiten und Studien zu verscheuchen suchte.
Der Legationsrat Moritz, ein Bruder des Kanzleidirektors, kam von jetzt an auch öfters in unser Haus. Er war schon mehr Weltmann, von einer ansehnlichen Gestalt und dabei von bequem gefälligem Betragen. Auch er besorgte die Angelegenheiten verschiedener Standespersonen und kam mit meinem Vater, bei Anlass von Konkursen und kaiserlichen Kommissionen, mehrmals in Berührung. Beide hielten viel auf einander und standen gemeiniglich auf der Zeile der Kreditoren, mussten aber zu ihrem Verdruss gewöhnlich erfahren, dass die Mehrheit der bei solcher Gelegenheit Abgeordneten für die Seite der Debitoren gewonnen zu werden pflegt. Der Legationsrat teilte seine Kenntnisse gern mit, war ein Freund der Mathematik, und weil diese in seinem gegenwärtigen Lebensgange gar nicht vorkam, so machte er sich ein Vergnügen daraus, mir in diesen Kenntnissen weiter zu helfen. Dadurch ward ich in den Stand gesetzt, meine architektonischen Risse genauer als bisher auszuarbeiten und den Unterricht eines Zeichenmeisters, der uns jetzt auch täglich eine Stunde beschäftigte, besser zu nutzen.
Dieser gute alte Mann war freilich nur ein Halbkünstler. Wir mussten Striche machen und sie zusammensetzen, woraus denn Augen und Nasen, Lippen und Ohren, ja zuletzt ganze Gesichter und Köpfe entstehen sollten; allein es war dabei weder an natürliche noch künstliche Form gedacht. Wir wurden eine Zeit lang mit diesem Qui pro Quo der menschlichen Gestalt gequält, und man glaubte uns zuletzt sehr weit gebracht zu haben, als wir die sogenannten Affekten von Le Brun zur Nachzeichnung erhielten. Aber auch diese Zerrbilder förderten uns nicht. Nun schwankten wir zu den Landschaften, zum Baumschlag und zu allen den Dingen, die im gewöhnlichen Unterricht ohne Folge und ohne Methode geübt werden. Zuletzt fielen wir auf die genaue Nachahmung und auf die Sauberkeit der Striche, ohne uns weiter um den Wert des Originals oder dessen Geschmack zu bekümmern.
In diesem Bestreben ging СКАЧАТЬ