Название: Die Macht der Intuition
Автор: Dr. Florian Ilgen
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783831270026
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Wenn wir in einem Leben gefangen sind, das nicht zu uns passt, befinden wir uns in einem chronischen Stresszustand. Je nachdem, wie schlimm dieser ist, handelt es sich nur um einen kleinen Schwelbrand in unserem Inneren oder aber um größere, vernichtend um sich greifende Flammen, die uns innerlich aushöhlen, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Das Problem ist dabei der Teufelskreis, in dem wir uns befinden.
Denn chronischer Stress lässt einen wichtigen Teil vom Gehirn schrumpfen: den präfrontalen Cortex.6 Das ist ausgerechnet der Teil, der dafür zuständig ist, wie wir Entscheidungen treffen. Sicher, innerhalb unserer täglichen Anforderungen kriegen wir das schon noch hin, auch wenn wir unter Strom stehen. Aber große, lebensverändernde Entscheidungen – die bekommt ein dauergestresster präfrontaler Cortex kaum noch auf die Reihe. So kommt es, dass sich Betroffene nicht angemessen in anhaltend belastenden Situationen verhalten. Das kann zum Beispiel eine Beziehung sein, die nur noch aus Zank und Streit besteht. Oder ein Arbeitsverhältnis, das den eigenen Fähigkeiten in gar keiner Weise gerecht wird. Situationsangemessen wäre es, eine solche Situation aus eigener Kraft zu verändern. Dazu fehlen den Betroffenen aber tatsächlich unter Umständen die neurologischen Ressourcen.
Auch das Gedächtnis verändert sich durch Stress. Ein fortlaufendes Bombardement mit Stresshormonen führte bei jungen Ratten im Versuch dazu, dass der präfrontale Cortex unempfindlicher für Hirnbotenstoffe wurde. Das schildern Forscher von der State University of New York in Buffalo. Wichtig zu wissen: Der präfrontale Cortex ist ebenfalls wesentlicher Sitz des Kurzzeitgedächtnisses. Die Zahl der Andockstellen für einen bestimmten Botenstoff, das sogenannte Glutamat, nahm unter chronischem Stress ab, die Ratten wurden dadurch gleichsam »stumpf«.7 Erinnert Sie das an den Eindruck, den Sie von manchen Menschen morgens in der Bahn haben?
Chronischer Stress führt außerdem dazu, dass wir geistig weniger flexibel sind – und dazu, dass wir weniger Informationen von der Außenwelt aufnehmen und abspeichern, sofern sie uns nicht gerade lebenswichtig erscheinen. Das führt dazu, dass wir in einem solchen Zustand viele Möglichkeiten übersehen, die sich uns eigentlich bieten würden. Das reicht vom interessierten Blick eines attraktiven Menschen bis hin zu einem Jobangebot, das eigentlich wie für uns gemacht wäre.
Chronisch gestresste Menschen laufen weniger aufmerksam durch die Welt. Vielleicht erklärt das auch die ein oder andere Situation beim Autofahren, bei der man sich fragt, wie der Fahrer vor einem eigentlich an seinen Führerschein gekommen ist. Weil chronisch gestresste Menschen aber auch ihr Kurzzeitgedächtnis nur eingeschränkt nutzen können, neigen sie darüber hinaus dazu, Gesprächsinhalte gleich wieder zu vergessen. Was nämlich nicht im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert und verarbeitet wird, hat erst gar keine Chance, im Langzeitgedächtnis zu landen.
Dramatisch in diesem Zusammenhang: Das Gehirn von Jugendlichen ist für diesen Effekt besonders anfällig. Das bedeutet, dass nicht nur ihre aktuellen schulischen Leistungen leiden, wenn sie innerlich anhaltend gestresst sind, prägende Erfahrungen in dieser Phase können sich zudem bis weit ins Erwachsenenalter hinein auswirken. Störungen der Glutamat-Übertragung können dann anfälliger machen für psychische Erkrankungen wie Depression, aber auch für die Entwicklung von Demenz in späteren Jahren. Zwangsstörungen, wie zum Beispiel endloses Händewaschen, können ebenso mit einer gestörten Glutamat-Übertragung zusammenhängen.8
Übrigens: Kurzzeitiger Stress hat diesen Effekt nicht. Beim Lernen für eine Prüfung mal Gas zu geben, ist vollkommen okay! Solange sich der Stress dabei moderat anfühlt und eher wie eine Herausforderung, die man mit gebührender Anstrengung bewältigen kann, fördert er sogar die Gedächtnisleistung. Der Unterschied ist folgender: Wenn man denkt: »Oha, ich muss jetzt vier Stunden richtig konzentriert lernen, dann habe ich den ganzen Stoff durch«, dann beflügelt der Stress die eigene Leistung. Wenn man aber denkt: »Mensch, das schaffe ich nie, ich bin ein Versager«, dann erreicht der Stress ein Niveau, bei dem er hemmend auf die Leistung wirkt. Mal ganz abgesehen davon, dass diese Beschäftigung mit sich selbst und dem vermeintlichen »Versager-Status« völlig vom Lernstoff ablenkt.
So kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit zur sogenannten sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Die Person versagt bei der Prüfung, hat womöglich vor lauter Stress auch noch einen Blackout – weil sie vorher eben geglaubt hat, sie würde versagen. Der Blackout hat aber gar nichts mit der Person an sich zu tun, er ist eine ganz normale physiologische Reaktion, denn große Cortisolmengen legen den Hippocampus in unserem Gehirn lahm. Daten, Fakten, Zahlen sind in so einem Moment nicht mehr zugänglich, auch wenn sie dort eigentlich gespeichert sind.
Nun ist es leider so, dass wir unser Selbstbild und unsere Identität aus der Summe unserer Erlebnisse bauen – besonders eindrückliche Erfahrungen wiegen dabei natürlich entsprechend schwer. Das heißt, in diesem Beispiel wird das Selbstbild des »Versagers« weiter verfestigt und zementiert – umso stärker, je länger diese Spirale fortläuft. Und umso schwieriger ist es später auch, ein solches Bild dann wieder aufzulösen. Schwierig, aber nicht unmöglich!
Bei der Definition von Stress möchte ich mich gern Prof. Oliver T. Wolf, Kognitionspsychologe der Ruhr-Universität Bochum, anschließen. Er sagt: »Stress ist ein Ungleichgewicht zwischen Belastungen und den Möglichkeiten, diese zu bewältigen.«9 Nicht jede Situation ist für jeden Menschen gleich stressig. Die Frage ist: Glaubt dieser Mensch, über die nötigen Ressourcen zu verfügen, um die Situation in den Griff zu bekommen? Wenn ja, dann spürt diese Person nur den leichten, beflügelnden Stress, der besonders wach macht und die Leistung fördert. Wenn sie aber glaubt, zu schwach, zu dumm, zu dick, zu dünn, zu sonst irgendwas zu sein – dann spürt sie starken Stress, also die Sorte, die lähmt.
Der Neurowissenschaftler Prof. Bruce Sherman McEwen von der Rockefeller University in New York drückt es so aus: »Das Gehirn ist das Organ, das entscheidet, welche Erfahrungen stressig sind.«10 Und obwohl unsere Gehirne natürlich grundsätzlich gleich aufgebaut sind, sind manche Strukturen eben bei manchen Menschen größer oder kleiner, dichter oder weniger dicht von Nervenzellen durchzogen.
Das Angstzentrum im Gehirn, die Amygdala, wird durch anhaltenden und intensiven Stress größer. Ein Mensch, der lange Zeit mit mehr belastet wurde, als er ertragen oder bewältigen konnte, neigt in der Folge dauerhaft dazu, mehr Angst und auch mehr Aggressionen zu empfinden als der Durchschnitt. Dabei werden die Aggressionen allerdings aus Angst vor Konsequenzen oft auch unterdrückt und gegen sich selbst gerichtet. Das kann unter anderem die Entstehung von Depressionen begünstigen.
In einer bedrohlichen – oder als bedrohlich wahrgenommenen – Situation, meldet die Amygdala dem Hippocampus jedenfalls schon mal gleich, er solle sich das Erlebte gut merken. Denn so sind wir bei erneutem Auftreten der Bedrohung gewappnet und können schnell reagieren. Sie legt sich also ihre eigene Gefahren-Datenbank an, anhand derer sie alles abgleicht, was an Sinneseindrücken aus der Außenwelt einströmt. Das bedeutet aber auch, dass eine ähnliche Situation in der Zukunft noch schneller zu einer Stressreaktion führt. »Ähnlich« kann sogar einfach nur heißen, dass ein Mensch beispielsweise einem anderen optisch ähnelt, der Ihnen einmal Schaden zugefügt hat. Schwupps, spüren Sie eine massive innere Unruhe und Ablehnung diesem neuen Menschen gegenüber, obwohl der arme Tropf doch gar nichts gemacht hat.
Die Amygdala stört das nicht. Sie ist nicht die Diplomatin, sondern quasi die Gefechtsleitzentrale unseres Gehirns, wie Diplompsychologe Martin Hess es treffend ausdrückt.11 Die aufmerksame Besatzung eines U-Boots löst ja auch erst Alarm aus und weckt nicht gleich den schlafenden Kapitän, wenn etwas Verdächtiges auf sie zukommt. Also drückt die Amygdala ebenso erst einmal auf den roten Alarmknopf und löst damit eine Überlebensreaktion aus: Fight or Flight, Kampf oder Flucht. Adrenalin pumpt durch unsere Adern und versetzt die Muskeln in Spannung. Das wir dann nicht wirklich zuschlagen oder weglaufen, verdanken wir der Großhirnrinde, die ein wenig träge nachzieht und der Instinktreaktion quasi im letzten Moment einen Riegel vorschiebt. Sie hat nämlich die СКАЧАТЬ