Название: Die Macht der Intuition
Автор: Dr. Florian Ilgen
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783831270026
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Albert Schweitzer, 1875–1965
Arzt, Philosoph, Theologe, Musikwissenschaftler
KAPITEL 2
DAS UNERKLÄRLICHE ERKLÄREN – GEHT DAS ÜBERHAUPT?
Weder mysteriös noch übernatürlich
Jede Sekunde senden unsere Sinne etwa elf Millionen Informations-Bits an unser Nervensystem. Bewusst werden uns davon nur 0,0004 Prozent. Denn mehr als 40 Bits kann unser Verstand nicht auf einmal bewältigen. Unser Verstand ist nämlich ein bisschen wie ein behäbiger Bürokrat. Er schaut sich alles ganz genau an, manchmal aber auch erst, nachdem ein Antrag auf Prüfung mehrmals gestellt wurde. Für blitzschnelle Entscheidungen ist diese Arbeitsweise unbrauchbar. Deshalb treffen wir Entscheidungen zum Beispiel beim Autofahren hauptsächlich aus dem Bauch heraus. Denn unsere Intuition beantwortet Fragen mit einem Wimpernschlag, binnen 200 Millisekunden.
Das Unterbewusstsein entlastet uns zudem von der bewussten Verarbeitung aller Sinneseindrücke, die gerade nicht sonderlich relevant sind. Stellen Sie sich mal vor, Sie müssten ständig bewusst an den Druck des Stuhls unter Ihnen denken, an das Gefühl der Armbanduhr und an die wechselnden Lichtverhältnisse draußen, wenn die Wolken vorbeiziehen. Und an Millionen andere Dinge gleichzeitig.
Wir könnten kaum einen klaren Gedanken fassen, würden uns wahrscheinlich schon eine halbe Stunde nach dem Aufstehen urlaubsreif fühlen. Auf jeden Fall könnten wir unsere eigentlichen Aufgaben wesentlich langsamer bewältigen. Damit wir gut vorankommen, übernimmt unser Unterbewusstsein den überwiegenden Teil der Wahrnehmungs-, Informations- sowie Gedächtnisprozesse, damit wir in jeder Situation auf passende Gedächtnisinhalte schnell zugreifen können. Gleichzeitig steuert es noch unsere Motorik, sodass wir nicht darüber nachdenken müssen.
Wie mühselig es ist, wenn man das doch tun muss, weiß jeder, der schon einmal in einem Tanzkurs ein paar neue Schritte gelernt hat. Irgendwann sinken die Inhalte ins Unterbewusstsein, und plötzlich geht es scheinbar ganz von allein. Sogar beim Sprechen denkt wohl kaum jemand darüber nach, wie er gerade die Zunge, Lippen und Kiefer bewegt, um ein Wort oder ganze Sätze herauszubekommen. Das alles macht das Unterbewusstsein für uns. Alles, was geht, versucht unser Gehirn, möglichst zu automatisieren. So schafft es Platz für Neues im Bewusstsein und kann die automatisierten Prozesse effizienter bearbeiten. Sogar die Deutung eines Wortes oder einer Situation findet im Regelfall im Unterbewusstsein statt. Das ist die Krux an der Geschichte. Manchmal speichern wir Bedeutungen ab, die nicht ganz passend sind, zumindest nicht für jede ähnliche Situation im Leben.
Während unser bürokratisches Bewusstsein immer nur eins nach dem anderen abarbeitet, greift unser Unterbewusstsein auf Bilder von Szenen zu, die wir schon einmal erlebt haben. Wie eine riesige Foto- und Videosammlung liegen diese in unserem körpereigenen Speicher und werden zum Abgleich herangezogen. Das Unterbewusstsein sucht dabei gezielt nach Mustern, die der aktuellen Situation möglichst ähneln. Dann formuliert es aus seinen Fundstücken Faustregeln, die in den meisten Situationen gut funktionieren. Je mehr Erfahrung wir also mit einer Sache haben, desto präziser kann das Unterbewusstsein arbeiten.
Dennoch hat das bewusste Prüfen von Informationen absolut seine Daseinsberechtigung: Immer dann, wenn wir uns in einer völlig neuen Situation befinden, für die es noch keinen adäquaten Datenbankabgleich gibt. Oder wenn irgendetwas an einer sonst bekannten Situation anders ist als sonst und vom Regelfall abweicht.
Die Wahrscheinlichkeit von Konsequenzen kann in solchen Fällen unser Bewusstsein besser berechnen. Meldet sich dann aber im Zuge einer bewussten Entscheidung doch wieder die Intuition, vielleicht mit einem flauen Gefühl im Magen, könnte es sein, dass wir ein Kriterium bei der bewussten Prüfung nicht bedacht haben. Das kann Anlass dazu geben, in Ruhe noch einmal über die Entscheidung nachzudenken. Der Psychologe Dr. Wim De Neys entdeckte sogar einen physisch nachweisbaren Alarmknopf in unserem Kopf: In der Mitte des Stirnhirns gibt es ein Areal, das immer dann aktiv wird, wenn eine Entscheidung in Konflikt mit etwas anderem steht, das wir wollen oder benötigen.1 2
De Neys beobachtete bei Probanden im Hirnscanner, dass dieses Alarmzentrum auch das autonome Nervensystem beeinflusst. Immer wenn ein Konflikt entdeckt wurde, begannen die Teilnehmer beispielsweise, etwas stärker zu schwitzen, ihre Körpertemperatur veränderte sich und damit auch die elektrische Hautleitfähigkeit.3
Wir sehen also: Das vermeintlich Mysteriöse ist tatsächlich etwas absolut Handfestes und Greifbares. Weder ist die Intuition spezifisch weiblich – obwohl Frauen aufgrund ihrer Aufmerksamkeit soziale Reize intensiver verarbeiten, dazu später mehr – noch handelt es sich um einen übernatürlichen sechsten Sinn.
Das Wort »Intuition« leitet sich vom lateinischen »intuitio«, also der »unmittelbaren Anschauung« ab. Sie ist nicht das Gegenteil von Rationalität, sondern eine sehr nützliche Ergänzung. Sie erlaubt es, komplexe Sachverhalte und komplizierte Vorgänge schnell zu erfassen und zu reagieren, während unser bewusster Verstand gerade erst in die Gänge kommt.
Neben dieser unmittelbaren Überlebenssicherung, die uns alle vermutlich mehrmals am Tag vor Verkehrsunfällen bewahrt, erlaubt sie aber auch ein ganzheitlicheres komplexes Einschätzen unserer Gesamtsituation. Irgendwie fühlen Sie sich unzufrieden, können aber nicht klar sagen, warum? Nehmen Sie sich Zeit, und gehen Sie ausgeruht an die Sache heran. Viele von uns setzen sich erst dann hin und machen eine Pause, wenn sie vom Alltag schon fix und fertig sind. Dann brauchen wir aber von unserem Nervensystem auch nichts Großartiges mehr zu erwarten.
Behandeln Sie den Check-in bei sich selbst deshalb wie ein regelmäßiges Team-Meeting auf der Arbeit. Da versuchen Sie ja nach Möglichkeit auch, wach und präsent zu sein. Intuitives Arbeiten sieht von außen aus, als würde der Betreffende gerade nichts tun. Dabei kann es richtig anstrengend sein. Immerhin werden sehr viele Daten abgerufen, miteinander abgeglichen und geordnet. Geben Sie Ihrem Unterbewusstsein genügend Raum dafür. Gehen Sie spazieren. Machen Sie etwas, das nicht viel bewusste Aufmerksamkeit erfordert, aber sie dennoch mit frischem Input versorgt. Wer dauernd dieselben Wände seiner Wohnung anstarrt, kommt nicht so leicht auf neue Ideen. Aus dem Abwägen und Neusortieren der Daten gibt das Unterbewusstsein dann irgendwann eine Intuition frei. Diese kann sich klar und prägnant oder auch zart und unsicher anfühlen.
In der Regel dringt nur das in unser Bewusstsein, was unser Unterbewusstsein als besonders wichtig oder dringend erachtet. Oder wenn es sich um ein unbekanntes Problem handelt, mit dem unser Unterbewusstsein noch nichts anfangen kann. Oder wenn etwas wirklich komplex ist. Eine komplizierte mathematische Formel wird wohl von allen Menschen im Bewusstsein gelöst. Sollte das bei Ihnen anders sein, schreiben Sie mir, ich wäre gespannt, von Ihnen zu lesen.
Der kanadisch-amerikanische Psychiater Eric Berne (1910–1970) betonte immer wieder, dass jeder Mensch dazu in der Lage ist, sein Leben schöpferisch, zuträglich und konstruktiv zu gestalten. Nun macht aber jeder von uns unterschiedliche Erfahrungen im Leben – und nicht alle davon sind auf den ersten Blick beflügelnd. Schon in der Kindheit ergeben sich erhebliche Unterschiede. Während glücklicherweise die meisten Menschen geborgen aufwachsen und ein sogenanntes Urvertrauen entwickeln können, bleiben Kinder, die mit schwierigen Bedingungen zu kämpfen hatten, oft lebenslang misstrauisch. Das trübt dann auch ihre Intuition.
Die Intuition ist nicht unfehlbar oder das ultimative Instrument. Und sie ist schon gar kein magisches Mittel. Sie ist das, was unser System für die höchste Wahrscheinlichkeit hält, basierend auf unserer individuellen Erfahrung. Damit kann sie richtig oder falsch liegen. Deshalb ist es sinnvoll, unsere intuitiven Annahmen mit genügend Zeit immer mal wieder mit dem Intellekt zu überprüfen und zu hinterfragen.
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