Название: Fettnäpfchenführer Japan
Автор: Kerstin und Andreas Fels
Издательство: Bookwire
Жанр: Книги о Путешествиях
Серия: Fettnäpfchenführer
isbn: 9783958892279
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Aber jetzt – das gesamte Hotel scheint sich auf die Seite zu legen. Stürzt es etwa ein? Schnell springt Herr Hoffmann aus der Wanne, rutscht dabei beinahe auf dem nassen Boden aus und sucht Schutz unter dem Rahmen der Badezimmertür. Irgendjemand hatte ihm mal erzählt, dass das der sicherste Platz sei – oder hat er das falsch in Erinnerung? Immerhin ist er im 23. Stock, und wenn das ganze Gebäude einstürzt, wie sicher kann dann der Türrahmen sein? Außerdem handelt es sich nur um eine Schiebetür, ist die wirklich stabil? Vielleicht doch lieber unters Bett?
In dem Moment ist wieder alles still. Viel ist gar nicht passiert. Ein paar Fläschchen am Waschbecken sind umgefallen und sein Koffer ist vom Schrank gerutscht. Das war wohl das Geräusch, das er eben gehört hatte. Der Schrank selber ist dank magnetischer Türschließer nicht aufgegangen, auch die wenigen Möbel sind anscheinend weitgehend an ihrem Platz geblieben. Trotzdem – jetzt ist erst mal ein Drink fällig.
Kurz darauf sitzt Herr Hoffmann – die noch immer leicht zittrigen Finger um einen Gin Tonic geschlossen – an der Hotelbar. Hat hier niemand etwas von dem Beben mitbekommen? Alle sind ganz ruhig und tun so, als wäre alles ganz normal. Da geht es schon wieder los. Die Gläser klirren leise und der Barkeeper hält mit erstaunlich gelassener Miene ein paar Flaschen fest. Während Herr Hoffmann sich noch panisch nach einem Notausgang umschaut, ist auch schon wieder alles ruhig. Nur ein schwaches Nachbeben. Er kippt seinen Drink in einem Zug herunter, legt das Geld zusammen mit einem großzügigen Trinkgeld auf den Tresen und geht zurück auf sein Zimmer.
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Als am 11. März 2011 um 14:46 Uhr die Erde bebt, ist Frau Watanabe gerade in ihrem Büro im Gespräch mit einem Kollegen. Eigentlich keine große Sache, denn bereits die ganze letzte Woche gab es immer mal wieder kleinere Erdbeben. Aber diesmal ist es anders. Das Beben hört nicht auf. Instinktiv halten Frau Watanabe und ihr Kollege sich am Türrahmen fest, während Aktenordner und Bücher polternd aus den Regalen fallen. Im Nachbarbüro fliehen ein paar Kollegen unter die Tische. Das gesamte Gebäude schwankt wie ein Schiff auf hoher See. Aus den Fenstern kann Frau Watanabe sehen, dass auch die Nachbargebäude wild hin und her schwingen. Aus dem Nachbarbüro ist ein halb unterdrückter Schrei zu hören, dann regnen Teile der Styroporverkleidung von der Decke.
Eine unendlich lange Zeit später – Frau Watanabe wird später kaum glauben, dass es nur etwa drei Minuten waren – sind die gröbsten Schübe vorbei. Stille. Aus Richtung des Hafens steigt eine riesige schwarze Rauchwolke auf. Ein Kollege – sein Haar ist zerzaust und sein Arm ist aufgeschrammt – schaut zur Tür rein und fragt, ob alles in Ordnung sei. Frau Watanabe nickt benommen, sie hat im Moment ganz andere Sorgen. Hektisch wählt sie Kenjis Nummer auf ihrem Handy, kann ihren Sohn aber nicht erreichen. Auch ihren Mann erreicht sie nicht – anscheinend ist das gesamte Telefonnetz zusammengebrochen.
»Schnell raus hier!« Der Kollege zieht sie am Arm in Richtung Treppenhaus. Auf dem Weg nach unten folgen die Nachbeben. Ganze Wandteile sind herausgebrochen. Frau Watanabe läuft immer weiter hinunter. Ihr Büro ist im 19. Stock.
Unten angekommen versammeln sich alle vor dem Gebäude. »Wow, 8,8 – Twitter spielt total verrückt!«, hört sie im Vorbeigehen einen jungen Mann sagen. Dann folgt ein sehr starkes Nachbeben. Die Kräne auf einem der benachbarten Gebäude scheinen jeden Moment umzukippen. Frau Watanabe will nach Hause.
Gemeinsam mit vielen anderen Menschen macht sie sich auf den Weg – zu Fuß, denn die Züge und U-Bahnen fahren nicht, Taxis sind Mangelware. Auf den Straßen sieht es verheerend aus, zum Teil ist der Asphalt aufgeworfen, Brückenteile sind eingesackt. Vor öffentlichen Telefonen haben sich meterlange Schlangen gebildet.
Nach etwa zwei Stunden – Fußwege in Tôkyô können lang werden – macht Frau Watanabe an einem konbini halt und kauft sich eine Limonade. Eigentlich hätte sie mehr Lust auf Wasser, aber das ist bereits ausverkauft.
Etwas mehr als vier Stunden braucht Frau Watanabe schließlich bis nach Hause. Kenji ist auch schon da, erleichtert schließt sie ihren Sohn in die Arme. Anderthalb Stunden später kommt auch ihr Mann nach Hause – endlich. Er hatte auf der Rückfahrt vom Büro stundenlang im Stau gestanden. Kenji hat bereits über Skype seine Tante in Osaka erreicht. Ihr und den Großeltern geht es ebenfalls gut. Erstaunlicherweise ist alles im Haus in bester Ordnung – nur eine einzelne Vase ist umgefallen. Und nicht einmal kaputt gegangen. Als Kenji einen Witz darüber macht, lachen alle erleichtert.
Erst später, als sie die Bilder vom Tsunami und dem Atomkraftwerk im Fernsehen sehen, fangen sie an, das wahre Ausmaß der Katastrophe zu begreifen.
Die nächsten Tage und Wochen sind chaotisch. Beinahe täglich gibt es weitere Erdbeben und neue Meldungen aus Fukushima – dass tatsächlich eine Kernschmelze stattgefunden hat, gibt die Betreiberfirma Tepco aber erst zwei Monate später zu. Viele von Frau Watanabes ausländischen Kollegen verlassen mit ihren Familien das Land, als sogenannte flyjin. (Angelehnt an das Wort gaijin – alle Menschen, die keine Japaner sind – werden Ausländer, die nach dem Erdbeben allzu schnell das Land verlassen, leicht spöttisch so genannt.)
Bald ist Trinkwasser in Flaschen ausverkauft, später dann nur noch streng rationiert erhältlich. Familie Watanabe erhält im Supermarkt eine Zwei-Liter-Flasche Wasser pro Person und Tag. Einige Lebensmittel wie Reis und Eier gibt es bald nicht mehr zu kaufen. Auch Benzin ist knapp, weil die Raffinerien an der Küste zerstört sind. Viele Lebensmittel und Hilfsgüter werden in die vom Tsunami verwüsteten Regionen geschickt, wo sie dringender gebraucht werden als in der Hauptstadt. Ist in den Supermärkten eine neue Lieferung angekommen, bilden sich schnell lange Schlangen, alle warten geduldig, keiner drängelt. Frau Watanabe versucht, immer nur das Nötigste einzukaufen und macht einen Bogen um Hamsterkäufer.
Immer wieder fällt der Strom aus oder wird für ganze Viertel abgeschaltet, auch fließendes Wasser ist nicht immer selbstverständlich. Strom sparen heißt die Devise, denn viele Atomkraftwerke liegen nach dem Beben erst mal still. Die Klimaanlagen kühlen öffentliche Gebäude und U-Bahnen nicht mehr auf eisige Temperaturen runter, die Automaten bieten keine gekühlten Getränke mehr an, in vielen Bahnhöfen und Geschäften ist jede zweite Neonröhre herausgeschraubt. Szeneviertel wie Shinjuku und Shibuya sind wegen der fehlenden Flut der Leuchtreklamen kaum wiederzuerkennen. Auch Frau Watanabe und ihre Familie versuchen, Strom zu sparen – ganz so, wie die Plakate in den U-Bahnen fordern.
In Spinat, Pilzen, Milch, Fisch, Tee und anderen Lebensmitteln aus Fukushima und angrenzenden Regionen werden hohe Radioaktivitätswerte gemessen. Die Frau eines deutschen Kollegen, die kaum Japanisch kann, lässt sich ab und zu von Frau Watanabe beraten, weil sie die Herkunftsbezeichnung auf den Verpackungen nicht lesen kann. Auch Frau Watanabe ist vorsichtig geworden beim Einkauf. Bei der Milch achtet sie vor allem wegen ihres Sohnes darauf, nur Produkte aus Hokkaidô zu kaufen – zum Teil zahlt sie umgerechnet vier Euro pro Tüte dafür. Um Joghurt, Gurken und Salat macht sie lieber einen Bogen, die stammen in der Regel aus den kritischen Regionen. Ganz genau kann sie es aber nicht wissen, Skandale um verstrahltes Fleisch oder grünen Tee, die in den Handel gelangt sind, machen den täglichen Einkauf unsicher.
Auf einem Spielplatz beobachtet Frau Watanabe, wie eine Gruppe von Müttern den Sand zuerst mit einem Geigerzähler überprüft, bevor sie ihre Kinder dort spielen lässt. Und die Mütter sind nicht die einzigen. Immer häufiger werden in Tôkyô sogenannte Hot Spots, Gebiete mit ungewöhnlich hoher Radioaktivität, entdeckt – oft von ganz normalen Bürgern, die lieber auf eigene Faust messen, als den Angaben der Regierung zu vertrauen.
Trotz allem ist Frau Watanabe dankbar. Dankbar, dass es ihrer Familie gut geht – viel besser als den Menschen in den Regionen, die der Tsunami zerstört hat, besser als СКАЧАТЬ