Название: Honoré de Balzac – Gesammelte Werke
Автор: Honore de Balzac
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962815226
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Raphaels Geschrei, das bis dahin im Basso continuo des allgemeinen Schnarchkonzerts untergegangen war, fand plötzlich Gehör. Die meisten Schläfer fuhren hoch und stießen laute Verwünschungen aus; sie erblickten den Störenfried, der auf unsicheren Beinen schwankte, und überschütteten seinen lärmenden Rausch mit einem Konzert von Flüchen.
»Schweigt!« rief Raphael. »Hunde, kuscht euch! – Émile, ich habe Schätze, ich werde dir Havannazigarren schenken.«
»Ich höre dich«, antwortete der Dichter, »Fœdora oder der Tod! Nur immerzu! Diese Zierpuppe Fœdora hat dich betrogen. Alle Weiber sind Evastöchter. Deine Geschichte ist nicht im mindesten dramatisch.«
»Ah! Du hast geschlafen, du Duckmäuser?«
»Nein … Fœdora oder der Tod! Ich hab’s begriffen!«
»Wach auf!« rief Raphael und berührte Émile mit dem Chagrinleder, als wolle er ein elektrisches Fluidum auf ihn einströmen lassen.
»Donnerwetter!« rief Émile, stand auf und packte Raphael mit den Armen, »denke doch daran, Freundchen, daß du mit anrüchigen Frauenzimmern zusammen bist.«
»Ich bin Millionär!«
»Wenn du auch kein Millionär bist, betrunken bist du todsicher.«
»Trunken von Macht! Ich kann dich töten! Schweig, ich bin Nero! Ich bin Nebukadnezar!«
»Aber Raphael, wir sind in schlechter Gesellschaft, du solltest endlich Ruhe geben, aus Achtung vor dir selbst.«
»Mein Leben ist ein zu langes Schweigen gewesen. Jetzt will ich mich an der ganzen Welt rächen. Ich werde mich nicht damit vergnügen, elende Taler zum Fenster hinauszuwerfen, ich werde meine Zeit nachahmen, sie konzentrieren und Menschenleben und Menschengeist und Menschenseelen verprassen. Das ist doch ein Luxus, der nicht armselig ist, was? Das ist der Überfluß der Pest! Ich werde mit dem gelben, blauen und grünen Fieber kämpfen, mit Armeen und Schafotten. Ich kann Fœdora haben. Aber nein, ich will Fœdora nicht, Fœdora ist meine Krankheit, mein Tod! Ich will Fœdora vergessen.«
»Wenn du mit deinem Geschrei nicht aufhörst, trage ich dich in den Speisesaal.«
»Siehst du diese Haut hier? Das ist das Vermächtnis Salomos. Salomo gehört mir, dieser lumpige Pedant von einem König gehört mir! Arabien und Peträa dazu. Das ganze Universum gehört mir. Du gehörst mir, wenn ich will. Du, wenn ich will, nimm dich in acht! Ich kann deine ganze Journalistenbude kaufen, und du wirst mein Lakai. Dann mußt du mir Couplets dichten und meine Papiere ordnen. Lakai! Lakai! – das heißt: ›Es geht ihm gut, weil er an nichts denkt.‹«
Bei diesen Worten schleppte Émile Raphael in den Speisesaal.
»Schön, du hast recht, Freundchen, ich bin dein Lakai. Aber du sollst Chefredakteur einer Zeitung werden, schweig! Benimm dich gesittet, aus Rücksicht auf mich. Hast du mich lieb?«
»Ob ich dich liebhabe? Du sollst Havannazigarren haben, durch dieses Leder hier. Immer das Leder, Freundchen, das allmächtige Leder! Ein vortreffliches Pflaster, ich kann die Hühneraugen mit ihm wegbringen. Hast du Hühneraugen? Ich entferne sie dir.«
»Ich habe dich nie so albern gesehen.«
»Albern, Freundchen? Nein. Dieses Leder wird kleiner, wenn ich einen Wunsch habe … das ist eine Antinomie. Der Brahmane – es steckt ein Brahmane dahinter! –, der war doch ein rechter Spaßvogel, denn siehst du, die Wünsche, die müssen doch größer machen …«
»Natürlich, versteht sich.«
»Ich sage dir …«
»Ja gewiß, sehr richtig, du hast ganz recht. Der Wunsch macht größer …«
»Ich sage, das Leder …«
»Ja, gewiß.«
»Du glaubst mir nicht. Ich kenne dich, alter Freund, du lügst wie ein neugebackener König.«
»Ja, verlangst du denn, ich soll den Unsinn, den du im Rausche daherschwatzt, für bare Münze nehmen?«
»Was gilt die Wette? Ich kann es dir beweisen. Nehmen wir das Maß …«
»Oh je, wenn er doch schlafen wollte!« rief Émile, als er sah, wie Raphael im Speisesaal hin und her suchte.
Dank der seltsamen Hellsicht, die bei Trunkenen manchmal auftritt und die etwas ganz anderes ist als die stumpfen Visionen des Rausches, gelang es Valentin mit affenartiger Behendigkeit, ein Schreibzeug und eine Serviette zu beschaffen, wobei er ununterbrochen wiederholte: »Wir wollen Maß nehmen! Wir wollen Maß nehmen!«
»Schön«, sagte Émile, »wir wollen Maß nehmen!«
Die beiden Freunde entfalteten die Serviette und legten das Chagrinleder darauf. Émile, dessen Hand sicherer schien als die Raphaels, zog mit der Feder die Konturen des Talismans nach, während sein Freund zu ihm sagte:
»Ich habe mir 200 000 Livres Rente gewünscht, nicht wahr? Wenn ich sie bekomme, dann wirst du sehen, wie mein Leder kleiner geworden ist.«
»Ja. Schlaf jetzt. Soll ich dich auf das Sofa legen? Liegst du gut?«
»Jawohl, du Pressebaby! Du sollst mein Spaßmacher werden, du sollst mir die Fliegen wegjagen. Der Freund im Unglück hat ein Recht, der Freund der Mächtigen zu werden. Und ich werde dir – gar – ren, Ha – van …«
»Nun, nun, schlaf nur dein Rauschgold aus, Millionär!«
»Und du deine Artikel. Gute Nacht! Willst du wohl Nebukadnezar gute Nacht sagen! Liebe! Zu trinken! Frankreich … Ruhm und reich … reich …«
Bald vereinigte sich das Schnarchen der beiden Freunde mit der Musik, die aus den Salons erscholl. Ein Konzert, das niemand hörte! Die Kerzen erloschen eine nach der anderen und zersprengten ihre kristallenen Manschetten. Die Nacht hüllte ihren Schleier über diese endlose Orgie, in der Raphaels Erzählung wie eine Orgie von Worten gewesen war, von Worten ohne Ideen, und von Ideen, denen oft der rechte Ausdruck СКАЧАТЬ