Leben ohne Maske. Knut Wagner
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Название: Leben ohne Maske

Автор: Knut Wagner

Издательство: Автор

Жанр: Биографии и Мемуары

Серия:

isbn: 9783957163080

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СКАЧАТЬ standen die Evakuierten, zu denen Wolfgang zählte, auf der untersten Sprosse der Dorfhierarchie.

      „Für kurze Zeit hatten wir auch mal Evakuierte im Haus. Zwangseinquartierung“, sagte August Stillmark. „Butzke hießen die Leute und wohnten oben in der Mansarde.“ Sie seien aus Schlesien, aus der Nähe von Breslau, gekommen und Anfang der 50er-Jahre nach Hessen gegangen, wo ihr Sohn bei einem Bauern untergekommen war.

      „Wir waren heilfroh, als sie endlich auszogen und wir wieder das Haus für uns alleine hatten“, sagte August Stillmark.

      Wenn Wolfgang daran dachte, welch großen Wert August Stillmark auf Herkunft, Heimat und all den Kram gelegt hatte, kam ihm die Welt, in der Heidi lebte, bizarr und unendlich fremd vor, und er konnte sich beileibe nicht vorstellen, irgendwann einmal in Arnsbach leben zu müssen. Großstädte hatten etwas Inspirierendes für ihn, und er war froh, wieder zu Hause in Erfurt zu sein.

      Wolfgang saß im Wohnzimmer und hämmerte von morgens bis mittags auf seine alte Reiseschreibmaschine ein, und mit Riesenschritten schrieb er sich auf das Ende des Stücks zu, dessen Inhalt schnell erzählt ist: André, die Hauptfigur, hat die Schnauze gestrichen voll von der Schule, dem Lehrmeister und seinem Vater. Von Abenteuerlust getrieben, geht er auf eine Großbaustelle. Als er sich in die sieben Jahre ältere Kellnerin Irene verliebt, gibt sie ihren zwielichtigen Lebenswandel und er sein Frust-Saufen auf. Er versucht ernsthaft, seinen Platz im Leben zu finden. Er geißelt die Scheinmoral und versucht, die Gesellschaft zu ändern. Am Ende des Stücks gibt Irene ihr verruchtes Kellnerinnen-Dasein auf und beschließt, in einer neu erbauten Kaufhalle als Verkäuferin zu arbeiten. Sie glaubt, dass Andrés Liebe so groß sei, dass er bei ihr bleibe. Aber André sieht ein, dass die Großbaustelle nicht seine Endstation sein kann. Er verlässt Schwedt und lässt Irene, die mit ihm ein neues Leben beginnen wollte, enttäuscht zurück und beginnt im Herbst 1965 mit dem Studium.

      Die Geschichte, an der Wolfgang schrieb, nahm ihn so gefangen, dass es ihm nichts ausmachte, wenn seine Großmutter, von einer unbändigen Unruhe getrieben, in der Wohnung herumgeisterte. Während er schrieb, ging sie in der Stube unruhig umher, packte Sachen und hantierte an der Schutzkette der Korridortür herum. Nach Hause wollte sie, wenn man sie fragte.

      Wolfgang ging äußerst liebevoll mit seiner Großmutter um, selbst wenn das Herumhantieren an der Schutzkette ungeheuer nerven konnte, flippte er nie aus. Vielleicht war ihm deshalb die Anfangsszene so gelungen, in der der alte Linke, etwas vergesslich schon, ständig nach der Zeitung fragt, die noch nicht gekommen ist.

      Bis seine Mutter, die halbe Tage im Kaufhaus arbeitete, nach Hause kam, kümmerte sich Wolfgang um seine Großmutter. Sie war leicht dement und konnte nicht mehr alleine auf die Straße gelassen werden. Denn in einem herannahenden Auto sah sie keine Gefahr. So nahm Wolfgang sich oft Zeit und ging mit seiner Großmutter in den Anlagen entlang des Flutgrabens spazieren. Und er hatte sich daran gewöhnt, dass sie ihn mit ihrem Sohn verwechselte und ihn Heinrich nannte. Onkel Heinrich war Theatermaler in Berlin gewesen und 1942 in Russland gefallen.

      Sobald seine Mutter die Wohnung betrat, verließ Wolfgang das Haus und erholte sich vom Schreiben und dem Aufpassen auf seine Großmutter, indem er Nachmittage lang die Stadt durchstreifte.

      Auf einem seiner Streifzüge begegnete er Trebing, den er seit seiner Oberschulzeit kannte und urig lange nicht gesehen hatte.

      Trebing, auf Kurzbesuch bei seinen Eltern, erzählte Wolfgang, dass er sein Studium an der TU Dresden nach drei Jahren geschmissen habe und jetzt Volontär beim Fernsehen sei. „Ich habe riesiges Glück gehabt, dass ich zu den 20 Volontären für Regie gehört habe“, meinte Trebing.

      „Schon ab diesem Jahr wurde keiner mehr angenommen.“

      Wie sie früher in der Mitropa gesessen hatten, saßen sie jetzt in der Bodega, bestellten in schneller Folge Bier, das ihnen die resolute Wirtin mit der verrauchten Stimme und den dicken Oberarmen auf die blank gescheuerte Tischplatte stellte.

      „Wir Volontäre haben uns sehr schnell angefreundet“, sagte Trebing, und trank den Schaum ab, bevor er am beschlagenen Bierglas herunterlaufen konnte. „Jeden Abend treffen wir uns irgendwo und diskutieren, und in einem Punkt sind wir uns alle einig: Im Suff hat man die besten Ideen.“

      Daher seien sie selten nüchtern, meinte Trebing lächelnd, bestellte sich einen doppelten Weinbrand und kam mächtig in Fahrt. Wolfgang, der an allem interessiert war, was Trebing über‘s Fernsehen zu berichten wusste, unterbrach den Dicken, wie Trebing auch genannt wurde, kein ein einziges Mal in seinem Redefluss.

      Gleich am ersten Tag habe man ihnen gesagt, dass der Fernsehfunk nicht die Aufgabe hat, Kunst zu produzieren, sondern ein Propaganda- und Agitationsinstrument der SED sei, erzählte Trebing.

      „Ziemlich hart“, sagte Wolfgang. Er wusste zwar, dass die Fernsehproduktionen nicht viel mit Kunst zu tun hatten, aber dass man das so offen zugab, erstaunte ihn schon.

      „Das Beste, was wir haben, ist unser Berufsausweis“, sagte Trebing. „Damit kommt man praktisch in jede Veranstaltung. Man zeigt nur den Ausweis vor und sagt ‚Deutscher Fernsehfunk‘, da machen alle sofort eine tiefe Verbeugung und lassen dich hinein.“

      Die Wirtin beugte sich über den Tisch, griff nach den leeren Biergläsern und fragte: „Noch’ne Runde?“

      „Na, klar“, sagte Trebing, und Wolfgang nickte.

      „Zum Fernsehen bin ich nur gegangen, damit ich an der Filmhochschule Babelsberg mal Regie studieren kann“, sagte Trebing. Zurzeit beschäftige er sich hauptsächlich mit regietechnischen Arbeiten für den Filmzirkel, erzählte Trebing. Daneben schreibe er auch Lieder und lyrische Prosa, und er zeigte Wolfgang ein Vietnamgedicht, das er in der letzten Zeit geschrieben hatte:

      Vietnam

      Die Blume

      Zertreten im Staub

      Verstummt das Lachen

      Die Stadt ist wie tot

      Und vor den Palästen der Kaiserzeit

      Stehn feindliche Söldner, das Volk ist in Not

      Da tönt der Ruf – FNL – durchs Land

      Und eh‘ sich der Morgen im Flusse spiegelt

      Ist die Stadt in ihrer Hand

      Es weht eine Fahne über HUE

      Geschmückt von Blumen

      Die Fahne des Sieges

      Es kam eine neue Zeit nach Hue

      Mit Menschen, die schwören: Was auch gescheh –

      Immer lebe Hue

      „Vietnamgedichte sind eine schwierige Kiste“, sagte Wolfgang. „Ich hab mich noch nicht dran versucht.“

      „Aber du könntest es“, sagte Trebing. „Du bist der größere Lyriker von uns beiden.“

      „Im Moment jedoch“, sagte Wolfgang, „habe ich der Lyrik abgeschworen und schreibe gerade an einem Stück.“

      „Thema?“

      „Großbaustelle.“

      „War ja auch nicht anders zu erwarten“, sagte Trebing und erinnerte sich СКАЧАТЬ