Leben ohne Maske. Knut Wagner
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Название: Leben ohne Maske

Автор: Knut Wagner

Издательство: Автор

Жанр: Биографии и Мемуары

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isbn: 9783957163080

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СКАЧАТЬ ihr Hantieren am Herd.

      Heidis Großmutter war klein und zierlich. Ihre grauen Haare, die glatt nach hinten gekämmt waren, wurden durch einen Knoten zusammengehalten. Weil es ihr streng konservativ eingestellter Mann so wollte, trug sie auch an diesem heißen Augusttag eine Alltagstracht, zu der ein langer, schwarzer Rock gehörte.

      Minna freute sich über Heidis Besuch, drückte sie fest an sich und gratulierte ihr zum Geburtstag. Dann erkundigte sie sich sofort danach, wie es der Großen gehe. Heidis Mutter Lisbeth, die Älteste ihrer Töchter, war für sie die Große, obwohl sie die Kleinste war, und die jüngste Tochter war für sie die Kleine, obwohl sie die Größte war.

      Wolfgang setzte sich unbeachtet auf einen Stuhl in der Ecke.

      Heidi sagte, dass ihre Mutter vielleicht schon am nächsten Montag aus dem Krankenhaus entlassen würde.

      Minna war erleichtert darüber und setzte die Kartoffeln auf. „Und was macht dein Vater so?“

      „Fast jedes Wochenende tritt er auf irgendeinem Sommerfest auf“, sagte Heidi. „Heute Morgen hat er für mich ‚Happy birthday‘ gespielt.“

      Während des Mittagessens lernte Wolfgang auch Heidis Großvater kennen, der ihm am Nachmittag sein einstiges Imperium zeigte.

      „Vor hundert Jahren wurde der Betrieb gegründet, und vor zehn Jahren musste ich die Zimmerei und das Sägewerk aufgeben“, sagte Oskar Anschütz und schob das schwere Holztor des Sägewerkes, das auf rostigen Metallrollen lief, mit einem Ruck in der Mitte auseinander.

      Heidis Großvater war groß und kräftig. Er hatte ein rundes Gesicht, tiefbraune Augen und einen grauen Stoppelbart wie Hemingway, und sein kerzengerader Gang ließ vermuten, dass er einst ein guter Turner gewesen war. Zur Feier des Tages trug er eine schwarze Anzughose, ein langärmliges, weißes Hemd und eine schwarze Weste mit einem grau-glänzenden Rückenteil aus Seide.

      Seinen Rundgang durch die kühle, schummrige Dunkelheit der Schneidmühle begann er am Gatter, dem Herzstück des Sägewerks, das nur noch ab und an schlug, wenn Oskar Bamberg für gute Freunde oder Nachbarn aus großen, dicken Stämmen Bohlen schnitt.

      Einige Meter hinterm Gatter befand sich ein viereckiger Einstieg, der hinunter in den Spänebunker führte. Der Spänebunker war dunkel und gruselig, denn nur von oben fiel Licht ein. Und Wolfgang, der an Höhenangst litt, war beeindruckt, wie Oskar Anschütz mit seinen 69 Jahren die schmale, lange Holzleiter im Zimmermannsgang hinabstieg. Er war unerschrocken, und Angst vor Ratten, die Wolfgang beim Abstieg in das dunkle Loch befiel, schien er nicht zu haben.

      Nachdem der Spänebunker inspiziert worden war, folgte Wolfgang Heidis Großvater in einen nach Hobelspänen riechenden, großen Raum, durch dessen Dielenritzen das Grün der Wiese schimmerte und der Bach, der an der Mühle vorbeifloss, deutlich zu hören war. „Auf dieser Maschine“, sagte Oskar Anschütz, „hoble ich noch heute Fußbodenbretter für die Leute – so nebenbei.“ Anfang der dreißiger Jahre sei diese Spezialhobelmaschine das Modernste gewesen, was es auf diesem Gebiet gegeben habe, wusste er zu berichten. Fürs Hobeln der Fußbodenbretter sei nur noch ein Arbeitsgang nötig gewesen. Unter- und Oberseite wurden erstmals gleichzeitig bearbeitet.

      Und dass Oskar Anschütz zur gleichen Zeit zwei Francis-Turbinen in Betrieb genommen habe, erfüllte ihn noch immer mit Stolz. Er habe einen Kunstgraben angelegt, um die Wasserkraft besser nutzen zu können, und mit den zwei Turbinen habe er sich unabhängig von der Stromversorgung gemacht, die während des Krieges und in der Nachkriegszeit oft zusammengebrochen sei.

      Oskar Anschütz griff nach einem großen Hebel an der Wand und sagte: „Den brauchte ich nur runterziehen, und Strom für die Maschinen, das Licht im Haus und im Stall war da. Wir waren unabhängig von dem, was geschah. Und durch die Landwirtschaft, die wir hatten, konnten wir uns selbst versorgen. So kamen wir über die schlechten Zeiten, ohne Hunger zu leiden.“

      Mit jedem Wort, das dem wortkargen Oskar Anschütz über die Lippen kam, mit jedem Schritt, den Wolfgang in eine ihm unbekannte, nach Harz, Sägespänen und Rinde riechende Welt tat, wurde er in die wechselvolle Geschichte der Schneidmühle hineingezogen, die im Jahre 1867 begonnen hatte. Da nämlich hatte der Dielenschneider Christian Anschütz sich mit seiner zweiten Frau Johanna Regina und sechs Kindern in Silberberg niedergelassen und aus einer alten Ölmühle eine konkurrenzfähige Schneidmühle gemacht.

      Der Rundgang durch die schummrige, spinnwebige Dunkelheit der Schneidmühle endete, wo er begonnen hatte: am Gatter, dem Herz des Sägewerks, das kaum noch schlug. Denn 1957, in sozialistischer Zeit, ließen sich Zimmerei und Sägewerk nicht mehr halten. Dem Privateigentum an Produktionsmitteln wurde zu Walter Ulbrichts Zeiten der Garaus gemacht, und Betriebe in der Größenordnung von der Schneidmühle Anschütz wurden verstaatlicht oder kaputtgemacht.

      „Um das Unternehmen zu retten, mussten wir die Produktion umstellen und die Beschäftigten-Zahl auf unter zehn herunterfahren“, sagte Oskar Anschütz und trat, zusammen mit Wolfgang, aus dem dunklen Tor der Schneidmühle in das gleißende Sonnenlicht dieses heißen Augusttages.

      Sie standen auf dem leeren, kiesgrauen Holzplatz, auf dem sich früher unzählige Holzstapel getürmt hatten, und Heidis Großvater sagte: „Vor zehn Jahren bekam ich nicht mehr die Holzzuteilungen, die ich brauchte, und die Schneidmühle war nicht mehr zu retten.“

      Er blickte auf die Stallungen, die sich zwischen der Schneidmühle und dem Wohnhaus befanden: „Früher holten wir das Langholz mit eigenen Fuhrwerken aus dem Wald, und neben der Schneidmühle betrieben wir eine große Landwirtschaft. Wir hatten Pferde und Kühe und Schweine. Und Geflügel sowieso. Aber seit der Kollektivierung der Landwirtschaft vor zehn Jahren ist das vorbei.“

      Wolfgang hörte Heidi sprechen und während Oskar Anschütz an den Stallungen vorbei auf das Wohnhaus zulief, folgte Wolfgang Heidis Stimme. Er fand Heidi und Tante Lisa auf der Wiese hinterm Haus im Schatten eines alten Apfelbaums. Sie unterhielten sich laut. Theo saß am seichten Wasser des Baches. Er hielt eine Weidenrute in der Hand und tat, als würde er angeln.

      Von der Wiese aus sah Wolfgang an der Rückseite der alten Schneidmühle hoch, und ihm kam die Schneidmühle wie eine Arche vor, die Oskar Anschütz über schwierige Zeiten wie Inflation und Weltwirtschaftskrise, Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg, Nachkriegszeit und das erste Jahrzehnt DDR gebracht hatte.

      „Hat er dir erzählt, dass er vor der Inflation der reichste Mann im Dorf war?“, fragte Tante Lisa, die schwer im weichen Gras lagerte. „Nein“, sagte Wolfgang. „Er hat nur von einem kleinen, schwarzen Notizbuch gesprochen, in dem er damals genau festhielt, was er den elf Zimmerleuten an Wochenlohn zahlte.“

      „Das kann ich dir zeigen!“ Lisa stand auf, zupfte sich die trockenen Grashalme von ihrem Rock, und Wolfgang folgte ihr ins Kontor, in dem Lisbeth Stillmark gearbeitet, Rechnungen geschrieben und vielleicht auch Courths-Mahler gelesen hatte.

      Das Kontor war klein. Vorm Fenster zum hinteren Garten stand ein großer, schwerer Schreibtisch. An der Wand links hing ein riesiger Stammbaum, auf dem die Anschützens bis ins sechste Glied lückenlos aufgeführt waren, und in die Wand rechts war ein Tresor eingelassen. Tante Lisa öffnete ihn und gab Wolfgang das kleine, schwarze Notizbuch zu lesen. Ein Wilhelm Möller bekam während der Inflationszeit Anfang Oktober 1923 vier Millionen Reichsmark als Wochenlohn, las Wolfgang. Anfang November waren es bereits 300 Milliarden 300 Millionen, die Oskar an Wilhelm Möller zahlte. Auch eine Ausgabe des Thüringer Hausfreunds vom 7. April 1923 wurde wie ein Heiligtum behandelt und im Tresor aufbewahrt. Im lokalen Anzeigenteil stand, dass der Zimmermeister und Sägewerksbesitzer Emil Anschütz infolge einer schweren Operation im vollendeten 60. Lebensjahr am 6. April 1923 gestorben sei. Und von historischem Wert, wie Wolfgang fand, war СКАЧАТЬ