Название: Das Fußvolk der "Endlösung"
Автор: Thomas Sandkühler
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783534746217
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Tatsächlich war der deutsche Feldzug gegen Polen ab 1. September 1939 eine Vorwegnahme des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion im kleineren Maßstab.2 Das Land erlitt ein bis dahin unbekanntes Ausmaß physischer Gewalt und politisch-ideologisch motivierten Terrors, der durch Sonderverbände des SS- und Polizeiapparates und oftmals reguläre Wehrmachtseinheiten ausgeübt wurde. SS und Militär arbeiteten auf der lokalen Ebene bis zum Ende der Militärverwaltung reibungslos zusammen. Es folgte Ende Oktober eine »Zivilverwaltung« durch parteitreue deutsche Funktionäre, die als »Chefs der Zivilverwaltung« mit dem Heer eingerückt waren. Sie betrachteten nicht selten Polen als ›koloniales‹ Experimentierfeld für die Okkupation und Germanisierung weiterer Gebiete Osteuropas.
Nach dem deutschen Einmarsch setzte eine massive Verfolgung der polnisch-jüdischen Bevölkerung ein. Deutsche Soldaten machten sich einen makabren Spaß daraus, jüdisch aussehende Männer zu demütigen, zu schlagen und zu sinnlosen Arbeiten heranzuziehen. Auch nach dem Ende der Kampfhandlungen blieb körperliche Gewalt gegen Juden eine alltägliche Erscheinung. Denn antisemitische Vorurteile, wonach die polnischen »Ostjuden« als arbeitsscheu, kriminell und infektiös galten, waren nicht nur in der Waffen-SS und Sicherheitspolizei, sondern auch im Parteiapparat und in der Wehrmacht weit verbreitet.3
Den Verbänden der Wehrmacht folgten Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, die mithilfe unterstellter Verbände der Ordnungspolizei allein bis Ende 1939 etwa 7 000 Juden erschossen. Umgebracht wurden vornehmlich die vermeintlichen oder tatsächlichen Führungsschichten der jüdischen Gemeinden. Die Einsatzgruppen ermordeten aber auch – und in viel größerer Zahl – christliche polnische Männer. Das Land sollte, wie Hitler gefordert hatte, seiner geistigen und politischen Elite beraubt werden, um die Zielsetzungen deutscher Besatzungspolitik ungehindert durchsetzen zu können.4
Das Vorgehen der Einsatzgruppen war mit dem Militär nicht hinreichend abgestimmt. SS- und Polizeiverbände wie das Einsatzkommando Hasselberg im Lubliner Gebiet und die Einsatzgruppe v. Woyrsch, die im Südosten Polens operierte, machten sich so flagranter Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht schuldig, dass einzelne hohe Wehrmachtsoffiziere wie Generaloberst Johannes Blaskowitz gegen Massenmorde, Plünderungen und Vergewaltigungen protestierten:
»Die Einstellung der Truppe zur SS und Polizei schwankt zwischen Abscheu und Hass. Jeder Soldat fühlt sich angewidert und abgestoßen durch diese Verbrechen, die in Polen von Angehörigen des Reiches und Vertretern der Staatsgewalt begangen werden.«5
Blaskowitz wurde auf Befehl Hitlers abgelöst. Er amnestierte darüber hinaus bereits verurteilte SS-Gewalttäter.6 Insgesamt beschleunigten die Proteste der Heeresführung nur das Ende der Militärverwaltung.
1.2Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur
Die Bevölkerung des Generalgouvernements war überwiegend polnisch, gefolgt von Juden, Ukrainern und kleineren Ethnien. Zu ihnen zählten die Nachkommen ehemaliger deutscher Siedler im Osten, sog. Volksdeutscher, denen das besondere Interesse des SS-Apparats galt. Auf einer Fläche, die etwa doppelt so groß war wie der heutige Freistaat Bayern (142 000 km2), wohnten nach dem Stand von 1941 – einschließlich Distrikt Galizien – rund 12 Millionen Einwohner.7
Für die Zeit vor dem deutschen Angriff wird von rund 2 Millionen Glaubensjuden ausgegangen, die überwiegend in den Städten lebten.8 Sie waren im kleinen und mittleren Handwerk, im Handel und, vorrangig in den größeren Städten, in den freien Berufen überrepräsentiert.9 Warschau hatte vor dem Krieg mit etwa 380 000 Personen die größte jüdische Gemeinde. In der Hauptstadt des vormals österreichischen Galizien, Lemberg, wohnten rund 100 000 Juden, in Krakau rund 70 000, in Lublin rund 40 000.10 Auf dem flachen Land des überwiegend agrarischen Polen gab es vielfach Orte mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil, die sprichwörtlichen »Shtetl«, in denen das traditionelle Judentum eine Welt für sich bildete.11 Das Einkommensniveau der jüdischen Minderheit Polens, die noch unter den Folgen der Weltwirtschaftskrise litt, war nicht hoch, mit fallender Tendenz von West nach Ost. In den ländlichen Kleinstädten lebten viele Juden am Existenzminimum.12
Die operative Politik Deutschlands gegen die Juden wurde durch die Besetzung Polens mit einem Problem konfrontiert, über das sich zuvor offenbar niemand Gedanken gemacht hatte: Im Reich wurden die rund 200 000 jüdischen Staatsangehörigen ausgeplündert und zur Emigration gezwungen. Diese Politik ließ sich gegen eine zehnmal so große Bevölkerungsgruppe, zumal unter Kriegsbedingungen, nicht durchführen.13 Terror und Gewalt waren temporäre Maßnahmen, aber aus Sicht der NS-Führung keine brauchbaren Lösungen der selbst definierten »Judenfrage«.
Erst am 21. September 1939 erließ Reinhard Heydrich, der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, genauere Weisungen für die antisemitische Politik in Polen. Heydrich stand seit kurzem einer neuen Polizeibehörde vor: dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA), das die Sicherheitspolizei (Gestapo und Kriminalpolizei) und den Sicherheitsdienst der SS (SD) unter einem Dach zusammenfasste.14 Auf gleicher Hierarchieebene lag das Hauptamt Ordnungspolizei unter seinem Chef Kurt Daluege, der über die Polizei im Einzeldienst sowie die militärisch organisierte Truppenpolizei gebot.15 Beide Hauptämter – es gab noch weitere – unterstanden gemeinsam Himmler als Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei.
1.3»Koloniale« Verwaltungsstruktur
1.3.1»Volkstumspolitik« und Himmlers Vollmachten
Polen wurde 1939 dreigeteilt. Im Osten des Landes rückte gemäß den geheimen Zusatzvereinbarungen zum Hitler-Stalin-Pakt die Rote Armee ein. Galizien um Lemberg wurde der Ukrainischen SSR zugeschlagen. Der Westen Polens einschließlich des oberschlesischen Industriereviers wurde von Deutschland annektiert. In der Mitte lag das zentralpolnische »Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete«. Leiter der dortigen Zivilverwaltung war Hitlers Rechtsanwalt und nunmehriger Justizfunktionär Dr. Hans Frank. Von Frank stammte das Diktum, Recht sei, was dem Volke nütze. Er war der Realtypus nationalsozialistischen Rechtsdenkens und eignete sich daher gut für die Rolle eines Generalgouverneurs. Ein fanatischer Antisemit und treuer Diener seines Herrn, betrachtete sich Frank als eine Art Vizekönig nach kolonialem Vorbild. Seine Aufgabe sei es, mit harter Hand und einem Minimum an Personal das als minderwertig betrachtete »Fremdvolk« niederzuhalten, auszubeuten oder zu vernichten.16
Die Zweiteilung des deutschen Besatzungsgebietes hing aufs engste mit der Absicht Hitlers und Himmlers zusammen, die ehemals deutschen Gebiete Westpolens dauerhaft für das Reich zu sichern. Da die NS-Führung von dem Grundsatz ausging, dass territoriale Expansion nur durch Ansiedlung zu deutschem Blut und Boden veredelt werden könne, war vorgesehen, in den neuen Gebieten eine deutsche Bevölkerungsmehrheit zu schaffen, Polen und Juden hingegen nach Osten, ins Generalgouvernement, zu vertreiben. Aber auch auf diesem Politikfeld, das Himmler bald mit einem groß angelegten Mord- und Siedlungsprogramm, dem »Generalplan Ost«, überbaute, gab es anfangs keine langfristige Planung. Vielmehr reagierte die NS-Führung auf den dringenden Wunsch der Baltendeutschen, ihre der UdSSR zugeschlagenen Staaten zu verlassen und ins Reich ›zurückzukehren‹. Die sowjetische Führung hatte begreiflicherweise keine Einwände gegen die Abwanderung der Volksdeutschen. Sie wurde in Zusatzprotokollen zum deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 festgelegt.17
Himmler ergriff diese Gelegenheit beim Schopf, indem er die Rück- und Ansiedlungspolitik an sich zog. Die Baltendeutschen sollten nicht etwa in das bisherige Reichsgebiet kommen, sondern in die neu annektierten Teile Polens. In einer programmatischen Reichstagsrede bezeichnete Hitler am 6. Oktober 1939 als »wichtigste Aufgabe« deutscher Politik im Osten eine СКАЧАТЬ