Название: Das Fußvolk der "Endlösung"
Автор: Thomas Sandkühler
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783534746217
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Das Zahlenverhältnis zwischen deutschen und nichtdeutschen Tätern lag in den Lagern der »Aktion Reinhardt« zwischen eins zu sechs und eins zu zehn, in der Schutzpolizei bei eins zu zwei und mehr. Die Zahl der nichtdeutschen Beteiligten war also deutlich höher als diejenige ihrer deutschen Vorgesetzten. Und auch der Tatbeitrag der Hilfspolizeiformationen war erheblich. So verhafteten im August 1942 ukrainische Hilfspolizisten mindestens die Hälfte der aus der Hauptstadt Ostgaliziens, Lemberg, nach Bełżec deportierten Juden. In der Mordstätte, in die man sie mit dem Güterzug brachte, verrichteten Nichtdeutsche unter deutscher Aufsicht das eigentliche Tötungshandwerk.38
Die Studie gehört dem polizeigeschichtlichen Zweig der Täterforschung an. Den bahnbrechenden Auftakt bildete hierzu das Buch des amerikanischen Historikers Christopher Browning über die mörderischen Aktivitäten einer aus Hamburg stammenden Schutzpolizeiformation, des Reserve-Polizeibataillons 101, im Distrikt Lublin des Generalgouvernements.39 Brownings Interesse galt einerseits der Ereignisgeschichte der zahlreichen Untaten, die diese im mittleren Lebensalter stehenden Polizisten im Herzen nationalsozialistischer Finsternis verübt hatten.
Andererseits und vor allem wollte er Antworten auf die drängende Frage geben, warum sie gemordet hatten, obwohl die Reserve-Polizisten keine ideologische Kerngruppe des NS-Apparats dargestellt hatten und nach Brownings Auffassung auch nicht in besonderem Maße ideologisch indoktriniert worden waren. Im Ergebnis beschrieb Browning ein Ursachenbündel, darunter Gruppendruck und »Kameradschaft« innerhalb einer militärisch organisierten Gemeinschaft, Gewöhnung ans Töten und eine ausgeprägte Gehorsamsbereitschaft.40
Der amerikanische Politologe Daniel Goldhagen, Autor einer seinerzeit vieldiskutierten Studie über die Täter des Holocaust, kam auf der Grundlage derselben Akten aus der Strafjustiz, die Browning ausgewertet hatte, zu diametral entgegengesetzten Schlüssen. Nach seiner Auffassung war das Reserve-Polizeibataillon 101 exemplarisch für einen genozidalen Antisemitismus, der seit Luther tief in der deutschen Nationalkultur verankert war. Die Polizisten hatten Goldhagen zufolge Juden ermordet, weil sie es gewollt hatten. Insbesondere die Befehlsverhältnisse überschießende Grausamkeit der uniformierten Massenmörder belegte nach Goldhagens Auffassung, dass die Polizisten keine »ganz normalen Männer« (Browning), sondern »ganz normale Deutsche« gewesen waren. Der Antisemitismus, bei Browning ein Ursachenfaktor unter anderen, war für Goldhagen der entscheidende Grund für das grausige Geschehen im Distrikt Lublin.41
Nicht zuletzt wegen der Kontroverse zwischen Browning und Goldhagen wurden Polizeibataillone, besonders die ungewöhnlich dicht dokumentierte Hamburger Einheit, zum neuen Paradigma der Täterforschung. Polizeimajor Wilhelm Trapp statt SS-Obersturmführer Adolf Eichmann, Direkttäter statt Schreibtischtäter, auf diese Veränderungen lässt sich der Forschungstrend in etwa bringen.42 Der Historiker Klaus-Michael Mallmann verwendete in einem Aufsatz Ende der 1990er Jahre erstmals den plastischen Begriff des »Fußvolks«, der auch im Titel dieses Buches zu finden ist. Er bezog ihn aber ebenfalls auf militarisierte Polizeiverbände.43 Mit Blick auf die Täter wäre demzufolge nicht von »ganz normalen Deutschen«, sondern, im Sinne Brownings, von »ganz normalen Männern« unterschiedlicher Nationalitäten zu sprechen, die als »Fußvölker« mithalfen, die »Endlösung« zu realisieren.
Der von Goldhagen als spezifisch deutsch herausgestellte eliminatorische Antisemitimus erweist sich im Spiegel neuerer Forschungen indes als gemeineuropäische Erscheinung jener faschistischen Internationale, die im Windschatten des »Dritten Reiches« und seines Achsenpartners Italien auf dem Kontinent entstanden war.44
Wesentliche Impulse zur Erforschung der Trawniki-Männer gingen von der Strafverfolgung aus. Sie reicht in der Sowjetunion bis in das Jahr 1942 zurück, als diese Hilfspolizisten ihre größten Verbrechen begingen, und führt über die Vereinigten Staaten von Amerika nach Deutschland als Urheberstaat zurück.
Der sowjetische Geheimdienst verfolgte Kollaborateure der deutschen Besatzer mit besonderem Eifer. Die juristische Grundlage bildeten zunächst die Artikel 58 des Strafgesetzbuches der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjet-Republik (RSFSR) von 1926 und der analog gestaltete Artikel 56 des Strafgesetzbuches der Ukrainischen SSR.45 Artikel 58 der RSFSR stellte einen weit gefassten Katalog »konterrevolutionärer Verbrechen«46 sowie die Zusammenarbeit mit ausländischen Staaten oder Gruppen bei feindlichen Handlungen gegen die UdSSR unter Strafe.47 Üblicherweise wurde auf die Todesstrafe erkannt.
Mithilfe des Artikels 58 ging die Sowjetunion zunächst gegen vermeintliche oder tatsächliche Nationalisten vor, die sich der sowjetischen Besatzungsherrschaft in den 1939/40 von der UdSSR annektierten Gebieten widersetzt hatten.48 Das Strafrecht war hierbei ein Instrument stalinistischen Terrors, neben Massenverhaftungen durch den Staatssicherheitsdienst (das NKWD) und Deportationen in die Lager der »Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager« (GULag).49 Nachdem die Rote Armee diese Gebiete im Laufe des Jahres 1944 wiedererobert hatte, ging die sowjetische Justiz gegen denselben Personenkreis erneut vor, nun aber unter dem Vorwurf des Landesverrats.50 Neben der individuellen Strafverfolgung wandte die UdSSR auch das Mittel kollektiver Repressalien an. So wurden die Wolgadeutschen ab Sommer 1941 als vermeintliches Sicherheitsrisiko nach Sibirien deportiert. Ein ähnliches Schicksal traf die indigene Bevölkerung der Krim und des Kaukasus. Gegen Wolgadeutsche wurden ab 1944 zusätzlich Strafverfahren nach Artikel 58 geführt.51
Nach dem Scheitern der deutschen Offensive gegen Moskau führte das NKWD bereits im Frühjahr 1942 erste Militärstrafverfahren durch. Das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR erließ ferner am 19. April 1943 die erste spezifisch gegen NS-Kriegsverbrecher und Kollaborateure gerichtete Rechtsvorschrift (Ukaz Nr. 43) über »Maßnahmen zur Bestrafung der deutsch-faschistischen Übeltäter […] sowie der Spione und Vaterlandsverräter unter den Sowjetbürgern und deren Helfershelfern«.52
Auf Mordtaten der Deutschen und ihrer Verbündeten sowie Spionage und Vaterlandsverrat von Sowjetbürgern auf dem Territorium der UdSSR stand der Tod durch den Strang, der öffentlich vollzogen wurde. Zuständig waren Militärstrafgerichte. Für Beihilfe zu diesen Verbrechen waren 15 – 20 Jahre Lagerhaft vorgesehen. 1947 schaffte das Präsidium des Obersten Sowjets die Todesstrafe als Höchststrafe in der UdSSR ab und ersetzte sie durch eine 25-jährige Lagerhaft. Seit 1950 konnte dann aber doch wieder die Todesstrafe für Vaterlandsverrat und Spionage verhängt werden.53
Im großen Maßstab wurden Verfahren durchgeführt, seit die Rote Armee ab Frühjahr 1943 von der Wehrmacht besetzte Gebiete laufend zurückeroberte. Hierbei ist zwischen einheimischen Beschuldigten und in Gefangenschaft geratenen Deutschen zu unterscheiden. Gegen beide Gruppen wurden anfänglich Schauprozesse gemäß Ukaz Nr. 43 abgehalten, später Geheimverfahren vor Militärstrafgerichten des sowjetischen Innenministeriums.
Um die Abschreckungswirkung in den noch deutsch besetzten Gebieten zu erhöhen und die Westalliierten politisch unter Druck zu setzen54, führte die sowjetische Justiz im Juli 1943 einen öffentlichen Schauprozess in Krasnodar durch. Bei diesem ersten Prozess wegen NS-Verbrechen überhaupt waren elf Staatsangehörige der UdSSR unter dem Vorwurf der Kollaboration mit dem deutschen Sonderkommando 10 a (Einsatzgruppe D) angeklagt, das Gaswagen zur Vernichtung der Juden eingesetzt hatte.55 Im Dezember 1943 fand ein weiterer Schauprozess gegen drei Deutsche und einen Sowjetbürger in Charkow statt.56 Gegenstand auch dieses Verfahrens war u. a. die Ermordung der Juden. Nach Kriegsende, parallel zu den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher, folgten 1945/46 weitere Schauprozesse in sowjetischen Großstädten gegen hohe Offiziere der ehemaligen SS und Wehrmacht, darunter Anfang 1946 der ehemalige Höhere SS- und Polizeiführer Friedrich Jeckeln, der in Riga öffentlich gehenkt wurde.57
Etwa 40 000 Sowjetbürger waren noch 1943 vom NKWD verhaftet worden. Die Zahl der Inhaftierten stieg bis in die ersten Nachkriegsjahre СКАЧАТЬ