Название: Das Fußvolk der "Endlösung"
Автор: Thomas Sandkühler
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783534746217
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Stangl und seinesgleichen waren nicht unmoralisch, sondern sie leitete eine partikulare Moralvorstellung, die Ethik der »Volksgemeinschaft«. Demnach war gut, was dem deutschen Volk nützt, und schlecht, was ihm schadete. Als schädlich betrachtete die NS-Moral die Annahme, dass Menschen universale Rechte beanspruchen könnten und die Ausübung der Staatsgewalt durch diese Rechte gebunden sei. Heinrich Himmlers berüchtigtes Diktum, sein schwarzes Korps sei bei der Ausrottung der Juden »anständig geblieben«, entsprach Welzer zufolge von breiten Mehrheiten der Deutschen geteilten Moralvorstellungen.
Welzers Studie hebt die verhängnisvolle Rolle des deutschen Bürgertums hervor. Nicht wenige Intellektuelle, darunter Staatsrechtler wie Carl Schmitt, waren nur allzu bereit gewesen, die universalistische Ethik als wesensfeindliches Herrschaftsinstrument zu denunzieren und den bürgerlichen Wertehimmel von Freiheit und Gleichheit im düsteren Gebräu der »Volksgemeinschaft« versinken zu lassen.99
Die Anwendung dieses Ansatzes auf nichtdeutsche Polizeieinheiten wirft das Problem auf, dass in der Sowjetunion kein Bürgertum im okzidentalen Sinne existierte und die ukrainische Hilfspolizei überwiegend unterbürgerliche Schichten umfasste. Es stellt sich mithin die Frage, in welchem Referenzrahmen sich Trawniki-Männer und Hilfspolizisten bewegten und ob an ihnen eine ähnliche Verschiebung zur Tötungsmoral aufgewiesen werden kann, wie sie die Truppenpolizisten des Reserve-Polizeibataillons 45 vollzogen.
Ähnlich neue Wege beschritt der Soziologe Stefan Kühl in seiner erneuten Auseinandersetzung mit dem von Browning und Goldhagen prominent behandelten Reserve-Polizeibataillon 101.100 Der Bielefelder Luhmann-Schüler interessiert sich nicht für die Moralvorstellungen von Tätern, sondern für die Art und Weise, wie Massengewalt ausübende Organisationen ihre Binnenkommunikation strukturieren, ihre Mitglieder einbinden und bei der Stange halten. Der organisatorische Zusammenhalt beruht demnach auf »Konsensfiktionen« wie dem wirkmächtigen Topos der »Volksgemeinschaft« und namentlich dem Antisemitismus.
Man musste nicht an die Realität dieser ethnisch definierten Gemeinschaft glauben – diese These unterscheidet Kühl von Welzer. Es genügte, davon überzeugt zu sein, dass die anderen Mitglieder der Organisation sie für ebenso konsensual hielten, wie man selbst es tunlichst tun sollte. Man musste die Juden nicht hassen; es genügte, sein eigenes Handeln auf die Tatsache einzustellen, dass der NS-Staat die Verfolgung der Juden zum Programm erhoben hatte und man daher dem eigenen Gegenüber antisemitische Motive ungefährdet unterstellen konnte. Ein Verstoß gegen solche realen Konsense zog die Gefahr sozialer Ausgrenzung nach sich.101
Moderne Organisationen zeichnet aus, dass sie ihren Mitgliedern Spielräume für selbstbestimmtes Handeln eröffnen und an die Leistungsbereitschaft ihrer Mitglieder appellieren.102 So gesehen, ist der von dem britischen Historiker Ian Kershaw geprägte Topos des »dem Führer Entgegenarbeitens«103 nicht zwangsläufig Ausdruck vorauseilenden Gehorsams, sondern kann als »ganz normale«, nicht spezifisch nationalsozialistische Identifikation mit Organisationszwecken interpretiert werden.
Nationalsozialistische Organisationen machten es ihren Mitgliedern jedoch nahezu unmöglich, diese zu verlassen. Es gab beispielsweise keinen Zwang, SS-Mitglied zu werden, aber die SS übte Zwang in der Art und Weise aus, wie sie ihren Mitgliedern den Austritt erschwerte. Gruppendruck, den auch Browning als wichtige Ursache hervorgehoben hatte, genauer: »Kameradschaft« spielte hierbei eine wesentliche Rolle. Dies gilt in besonderem Maße für eine militärisch, nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam, organisierte Polizeieinheit im geschlossenen Einsatz, die sich von tödlichen Feinden umgeben wähnte.104
Moderne Organisationen lassen künftige Mitglieder darüber im Unklaren, was von ihnen erwartet wird. Organisationen müssen darauf bauen können, dass ihre Mitglieder bereit sind, der Organisationsleitung zuzugestehen, dass sie nicht alle auf den Einzelnen zukommenden Aufgaben vorab definiert, sondern es bei recht allgemeinen Zweck- und Funktionszuschreibungen belässt. Mtglieder stellen der Organisation folglich »eine Art Blankoscheck für die Verwendung ihrer Arbeitskraft« aus:
»Dadurch entsteht eine folgenreiche Indifferenzzone, innerhalb der sie zu den Befehlen, Aufforderungen, Anweisungen und Vorgaben der Vorgesetzten nicht Nein sagen können, ohne die Mitgliedschaft in ihrer Organisation grundsätzlich infrage zu stellen. Der Vorteil für die Organisationsleitung liegt auf der Hand: Die Organisationsmitglieder geloben eine Art Generalgehorsam gegenüber zunächst nicht weiter spezifizierten Befehlen und Weisungen. So ermöglichen sie der Führung, die Organisation sehr schnell und ohne umständliche interne Aushandlungsprozesse an veränderte Anforderungen anzupassen.«105
Gewaltorganisationen sind daran interessiert, diese Indifferenzzonen auszuweiten, damit Zweifel an der Legitimität einer Gewalthandlung (etwa eines Befehls zur Erschießung wehrloser Frauen und Kinder) organisationskonform beseitigt werden können. Dies geschieht in der Regel mit dem rechtlichen Instrument der Legalisierung, kann aber auch durch die gedankliche (in diesem Fall zutreffende) Unterstellung geschehen, es sei der »Wunsch des Führers«, dass diese Taten verübt werden, also durch den Appell an die Konsensfiktion gemeinschaftlichen Handelns.106
Die »Arisierung« jüdischen Eigentums trug erheblich dazu bei, die Bindung zwischen Führung und Geführten in der nationalsozialistischen »Zustimmungsdiktatur« zu stärken.107 Geld spielte Kühl zufolge auch in den nationalsozialistischen Gewaltorganisationen eine wichtige Rolle. Zu den materiellen Anreizsystemen gehörte die Besoldung der Polizisten. Die legale und illegale Bereicherung am Eigentum Ermordeter habe darüber hinaus zwar keine zentrale Motivation zur Organisationsmitgliedschaft, aber einen willkommenen Mitnahmeeffekt dargestellt.108 Solche informalen Belohnungen erleichterten das Mittun, waren aber stets geeignet, die Integrität der Organisation durch Verhaltensweisen zu gefährden, die Himmler von den vorgeblich hohen Moralstandards der SS, ihrer Tötungsmoral im Sinne Welzers, abgrenzte.109
Kühl hat wiederholt darauf hingewiesen, dass sich sein Ansatz dazu eigne, auch nichtdeutsche »Fußvölker« des Holocaust zu analysieren.110 Treffen Kühls Thesen also auch auf die ukrainische Hilfspolizei zu? Wenn ja, lassen sie sich auf »anormale« Organisationen wie die Trawniki-Männer sinnvoll anwenden? Waren diese Organisationen womöglich beide nicht »normal«, weil es soziologisch eben doch einen Unterschied ausmacht, ob eine Organisation Briefe verschickt oder Massen von Menschen tötet?111
Indem Trawniki-Männer und ukrainische Hilfspolizisten in den Blick genommen werden, behandelt die vorliegende Darstellung nichtdeutsche Polizeiformationen, von denen eine im Kühlschen Sinne als »normal« anzusprechen ist, aber nicht im geschlossenen Einsatz war, sondern die städtische Schutzpolizei verstärkte, die andere mit der Person des Lubliner SS- und Polizeiführers Odilo Globocnik eng verbunden war und ursprünglich zu dem »anomalen« Zweck ins Leben gerufen wurde, nationalsozialistische »Rassenpolitik« zu ermöglichen.
Wie viel Zwang wurde ausgeübt, wie hoch war der Grad oder doch zumindest die Fiktion der Freiwilligkeit zum Eintritt in die beiden Organisationen? Rekrutierte die SS vorzugsweise solche Personen als Wachmänner, von denen sie annahm, dass sie das Feindbild vom »jüdischen Bolschewismus« teilten, an der deutschen Vernichtungspolitik also aus eigenen ideologischen Antrieben partizipieren würden? War das Motiv der Selbstverpflichtung stark genug, um die Teilnahme an Gewaltverbrechen aus teilweise eigenem Antrieb hervorzubringen? Welche Möglichkeiten hatten Wachmänner und Polizisten, sich zu entziehen? Welche Austrittsoptionen boten die Organisationen СКАЧАТЬ