Das Fußvolk der "Endlösung". Thomas Sandkühler
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Название: Das Fußvolk der "Endlösung"

Автор: Thomas Sandkühler

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

Серия:

isbn: 9783534746217

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СКАЧАТЬ Strafverfahren wegen NS-Gewaltverbrechen, schon frühzeitig hingewiesen.77

      Entscheidende Impulse kamen jedoch aus den USA. Dort untersuchte eine dem FBI angegliederte Dienststelle für Sonderermittlungen (Office of Special Investigations, OSI), systematisch die Einbürgerungsanträge ehemals osteuropäischer Einwanderer aus der Zeit nach 1945. Ließ sich nachweisen, dass Angehörige dieses Personenkreises seinerzeit falsche Angaben gemacht, beispielsweise ihre Zugehörigkeit zu deutschen Hilfspolizeieinheiten verschwiegen hatten, übergab das OSI den Fall der Justiz, die ein Verfahren zur Ausbürgerung und Abschiebung der Betreffenden in Gang setzen konnte.78

      Um Beweise für falsche Einbürgerungsangaben führen zu können, stellte das OSI umfangreiche Bestände von Fotokopien aus deutschen Akten in sowjetischen Archiven sowie von Zeugenaussagen ehemaliger Trawniki-Männer zusammen. Dieser als »Trawniki Central« bezeichnete Quellenbestand ist seit 2009 öffentlich zugänglich, soweit er nicht in laufenden Ermittlungsverfahren verwendet wird.79 Er bildet eine wesentliche Grundlage auch des vorliegenden Buches.80 Das OSI erwarb durch seine Ermittlungen beträchtliche Expertise. Der Historiker Peter Black, ehemals Chefhistoriker des OSI, ist der beste Kenner der Materie und hat eine Reihe grundlegender Aufsätze über die in Trawniki ausgebildeten Hilfspolizisten vorgelegt.81 Sein Nachfolger im Amt des Chefhistorikers, David Rich, charakterisierte die Trawniki-Männer als »Reinhard‹s Footsoldiers«82.

      Die Ausbürgerung ehemaliger »fremdvölkischer« SS-Helfer konfrontierte die Justizbehörden der zur Aufnahme verpflichteten Staaten mit der Frage, ob sie Ermittlungen gegen diese oft schon hochbetagten Männer in Gang setzen sollten. Spektakulär war das Verfahren gegen den ehemaligen Wachmann Ivan Mykolajovyč (John) Demjanjuk. Er wurde von den Vereinigten Staaten nach Israel ausgeliefert und dort zum Tode verurteilt, weil man ihn mit einem letztlich nicht ermittelten Wachmann »Iwan der Schreckliche« im Vernichtungslager Treblinka verwechselt hatte.83 Das Oberste Gericht Israels sprach Demjanjuk 1993 frei. Er kehrte in die USA zurück, wo das OSI seine erneute Ausbürgerung betrieb, weil Demjanjuk nachweislich im Vernichtungslager Sobibór gedient hatte. Er wurde im Mai 2009 nach Deutschland abgeschoben, wo die Staatsanwaltschaft München ein Strafverfahren gegen den 89-jährigen Beschuldigten vorbereitete.

      Demjanjuk wurde im Mai 2011 der Beihilfe zum Mord an über 28 000 jüdischen Menschen für schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Das Gericht ging davon aus, dass der Angeklagte Wachmann in Sobibór gewesen war. Seine bloße Mitgliedschaft in der Organisation des Lagers genügte nach Auffassung des Landgerichts, um den Schuldspruch gegen Demjanjuk zu rechtfertigen.84 Diese Rechtsauffassung brach mit der jahrzehntelangen Praxis in der deutschen Justiz, die »kleinen Rädchen« am unteren Ende der Befehlskette unbehelligt zu lassen.85 Anklage und Verteidigung legten Revision ein, doch starb der Angeklagte, bevor das Urteil rechtskräftig wurde.

      Im Gefolge des Demjanjuk-Verfahrens wurden Ermittlungen gegen ehemalige Trawniki-Wachmänner erstmals oder wiederholt aufgenommen. Zu einem dieser Ermittlungsverfahren, geführt von der Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von Nationalsozialistischen Massenverbrechen in Dortmund gegen einen ehemaligen Zugwachmann im Vernichtungslager Bełżec, steuerte ich 2010 ein Sachverständigengutachten bei.86 Kurz darauf eröffnete die Staatsanwaltschaft München ein Ermittlungsverfahren gegen einen ehemaligen ukrainischen Hilfspolizisten wegen der Beteiligung an Verbrechen gegen die jüdischen Einwohner der Stadt Lemberg. Zu diesem Verfahren legte ich ebenfalls ein Sachverständigengutachten vor.87

      Das Demjanjuk-Verfahren intensivierte die Forschung über die Trawniki-Männer. Die Historikerin Angelika Benz und der Historiker Lawrene Douglas berichteten über den Prozess.88 Der Historiker Dieter Pohl, der als Sachverständiger an diesem Verfahren mitgewirkt hatte, publizierte einen Aufsatz über die Wachmänner im Vernichtungslager Bełżec.89 Peter Black legte einen weiteren umfangreichen Aufsatz vor, in dem er die Trawniki-Männer, wie vor ihm Rich, als »Foot Soldiers of the Final Solution« bezeichnete.90 Die Historikerin Sara Berger kontextualisierte die Trawniki-Männer in dem Netzwerk von Tätern, das in den Mordanstalten der NS-»Euthanasie«, den Tötungslagern der »Aktion Reinhardt« und deren letzten Ausläufern in Oberitalien Dienst getan hatte.91 Aus einer geschichtswissenschaftlichen Dissertation an der Humboldt-Universität ging Angelika Benz' Monographie über die Trawniki-Männer hervor.92 In der jüngsten Publikation zur »Aktion Reinhardt«, einer Edition von Fotos, die der stellvertretende Kommandant des Vernichtungslagers Sobibór, Johann Niemann, hinterlassen hat, behandelt Martin Cüppers die in Trawniki ausgebildeten Wachmänner in einem eigenen Kapitel, das den gegenwärtigen Forschungs- und Kenntnisstand wiedergibt.93

      Die neuere Forschung über die »Trawnikis« betont übereinstimmend die Heterogenität dieser Formation bereits bei der Rekrutierung und die Spannweite ihrer Verhaltensoptionen. Pauschale Bewertungen, etwa der besonderen Grausamkeit dieser Hilfspolizisten oder des Zwangs, unter dem sie gestanden hätten, wurden durch differenzierte Urteile abgelöst. Insoweit scheint es keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Trawniki-Männern und den Angehörigen des T 4-Netzwerks in den Lagern der »Aktion Reinhardt« gegeben zu haben. Das erleichtert Vergleiche zwischen Täten und Mittätern, Deutschen und Handlangern, wirft aber die Frage nach der Spezifik der Trawniki-Männer auf. Zudem entsprechen gängige Erklärungen ihres Verhaltens weitgehend dem bereits von Browning hervorgehobenen Faktorenbündel und teilen mit ihm die unzureichende Gewichtung der Einzelfaktoren.94

      Für die Beteiligung der ukrainischen Hilfspolizei am Holocaust in der östlichen Ukraine (also im »Reichskommisariat«) hat der Historiker Martin Dean ebenfalls eine weitgehende Übereinstimmung mit den »gewöhnlichen Männern« Brownings konstatiert.95 Die Erforschung der ukrainischen Hilfspolizei ist jedoch hinter der »Trawniki«-Forschung zurückgeblieben.96 Akten sowjetischer Strafverfahren gegen Hilfspolizisten sind nicht im gleichen Umfang in den Westen gelangt wie diejenigen der Wachmänner-Verfahren. Es fehlt bislang auch an einer alle deutschen Besatzungsgebiete umfassenden Monographie über die Hilfspolizei. Den Schwerpunkt neuerer Publikationen bildet die in der gegenwärtigen Ukraine vieldiskutierte Frage, ob die ukrainische Hilfspolizei nur ein willfähriges Organ deutscher Besatzungspolitik war oder als paramilitärischer Arm der rechtsradikalen »Organisation Ukrainischer Nationalisten« eigenständige politische Ziele verfolgte. Auch die Frage nach dem Antisemitismus der OUN und der Hilfspolizei wird intensiv diskutiert.

      Generell ist davon auszugehen, dass Vergleiche zwischen gleichartigen Gruppen Gemeinsamkeiten und Unterschiede besser zutage fördern als die isolierte Erforschung einer einzelnen Gruppe. Das vorliegende Buch versteht sich als erster Versuch eines solchen Vergleichs, hier zwischen ukrainischen Hilfspolizisten und Trawniki-Männern im mikrogeschichtlichen Rahmen der Stadt Lemberg und des Vernichtungslagers Bełżec. Beide waren Polizeieinheiten, beide standen mit der deutschen Vernichtungspolitik in enger Verbindung, beide setzten sich mehrheitlich aus Ukrainern zusammen. Andererseits waren die Trawniki-Männer das Produkt weit ausgreifender rassenpolitischer Planungen der SS, was für die Ukrainische Polizei nicht gilt, hatten die Wachmänner einen ungeklärten Rechtsstatus und partizipierten in den Vernichtungslagern direkt am Massenmord.

      Auf der Suche nach Vergleichsparametern stößt man auf zwei Studien, die auf je unterschiedliche Weise neue Antworten auf die vieldiskutierte Frage geben, was Menschen zu Tätern macht: Harald Welzers »Täter«-Buch und Stefan Kühls Buch über Organisationen im Holocaust. Die Forschungen des Sozialpsychologen Harald Welzer über den »Referenzrahmen« des Tötungshandelns, hier am Beispiel einer weiteren in Osteuropa operierenden Polizeieinheit, des Reserve-Polizeibataillons 45, waren bahnbrechend.97 Laut Welzer kam es weniger auf individuelle Charaktereigenschaften oder psychische Dispositionen der Massenmörder an als vielmehr auf die kollektiven Moralvorstellungen, die deren Taten als im Sinne der »NS-Moral« notwendig legitimierten, und auf die routinisierenden Praktiken, die das Töten erleichterten. Am Beispiel von Franz Stangl, der das Vernichtungslager Treblinka kommandierte, erläutert Welzer seine These wie folgt:

      »Stangl СКАЧАТЬ