Название: Das Fußvolk der "Endlösung"
Автор: Thomas Sandkühler
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783534746217
isbn:
Gezielte Ermittlungen gegen die ehemaligen Trawniki-Männer und Hilfspolizisten setzten etwa 1947 ein. Sie beruhten auf der Auswertung deutscher Dokumente, die die Rote Armee bei ihrem Vormarsch erbeutet hatte, und richteten sich vorrangig gegen ehemalige Rotarmisten, die nach Kriegsende in die UdSSR zurückkehrten oder von den Westalliierten dorthin repatriiert wurden. In Strafprozessen gemäß Artikel 58 wurde der Tatvorwurf meist pauschal erhoben. Für die Verurteilung genügte vielfach der Nachweis, im Lager Trawniki zum Waffendienst gegen die Sowjetunion ausgebildet worden zu sein. Dieser wurde durch Personalbögen und Versetzungsanordnungen aus der Lagerverwaltung, belastende Zeugenaussagen ehemaliger Kameraden und Geständnisse der Angeklagten geführt.60
Der Staatssicherheitsdienst arbeitete mit Folter und Gegenüberstellungen, durch die Beschuldigte unter Druck gesetzt wurden.61 Ihre Aussagen waren oft formelhaft und von stalinistischer Rhetorik geprägt. Die Anklageschrift wurde den Beschuldigten meist erst unmittelbar vor dem Prozess zugestellt. Sie verzichteten ›freiwillig‹ auf einen Rechtsbeistand und wurden oft nur aufgrund ihrer eigenen Aussage verurteilt. Eine Berufung war nicht möglich. Nur ein Teil der Verurteilten kam wegen tatsächlicher NS-Verbrechen in den GULag. Seit 1955 wurden allerdings die meisten ehemaligen Wachmänner durch eine Amnestie nach Stalins Tod aus den Zwangslagern entlassen.62
Gleichzeitig intensivierte das KGB in den 1950er Jahren seine Ermittlungen wegen NS-Verbrechen. Systematische Strafverfolgung richtete sich seit Anfang der 1960er Jahre auch gegen ehemalige Hilfspolizisten und Angehörige des SS-Ausbildungslagers Trawniki. Maßgeblich war nun nicht mehr der Artikel 58, sondern die Artikel 181 – 182 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation. Diese stärkten die Rechte der Angeklagten und schrieben den unabhängigen Zeugenbeweis verbindlich vor. Jedoch trugen die sowjetischen Verfahren wenig zur Aufklärung über die Befehlsstruktur der Massenmorde, die deutschen Vorgesetzten in den Vernichtungslagern etc. bei.63
1966/67 fand in Dnjepropetrowsk (Ukrainische SSR) der wichtigste öffentliche Strafprozess in der UdSSR gegen ehemalige Wachmänner des Vernichtungslagers Bełżec statt. Er war kein Schauprozess nach stalinistischem Muster.64 Während sich die Beschuldigten des etwa gleichzeitigen bundesdeutschen Verfahrens gegen Oberhauser u. a. im Allgemeinen zurückhaltend über ihre Tätigkeit in den Vernichtungslagern äußerten, sagten ehemalige Wachmänner im sowjetischen Zuev-Verfahren sehr viel konkreter über das grausige Geschehen in Bełżec aus.65
Der Grund für diese Offenheit war vermutlich, dass die Befragten, die meist bereits in der Stalinära verurteilt worden waren, eine erneute Verurteilung nicht fürchten mussten und daher gefahrlos die Wahrheit sagen konnten:
»Im Ermittlungsverfahren und in der Gerichtsverhandlung in meiner Sache [bei seiner früheren Verurteilung] habe ich die Tatsache meines Dienstes im Todeslager Belzec und der dort begangenen Verbrechen verschwiegen, weil ich Angst vor der Verantwortung deswegen hatte. Ich habe verstanden, dass ich ein schweres Verbrechen begangen habe, deshalb habe ich es verschwiegen, da ich gewusst habe, dass ich viel härtere Folgen hätte tragen müssen, wenn ich vom Dienst in Belzec und den von uns dort begangenen Verbrechen erzählt hätte. Jetzt habe ich eine Strafe für den Dienst bei der SS verbüßt und weiß, dass man sich nicht zweimal wegen eines Verbrechens verantworten muss, deshalb habe ich beschlossen, alles so zu erzählen, wie es gewesen war. Aus diesem Grund ist alles, was ich über das Todeslager Belzec und die dort begangenen Verbrechen sowie die Personen, die ich genannt habe, die Wahrheit.«66
Trotz der dubiosen rechtsstaatlichen Qualität sowjetischer Aussagen ist ihr Stellenwert für die historische Forschung hoch. Was sowjetische Beschuldigte in den späten 1940er und frühen 1950er Jahre aussagten, war oftmals das Erste, was man über die Vorgänge in den Vernichtungslagern der »Aktion Reinhardt« überhaupt erfahren konnte, sieht man von den Berichten Kurt Gersteins und Wilhelm Cornides' ab, die in der Bundesrepublik publiziert wurden.67 Ermittlungen wegen der Verbrechen in diesen Lagern kamen in der Bundesrepublik erst deutlich später in Gang.
Zudem muss zwischen den Urteilen jener Jahre und den Vernehmungen als solchen unterschieden werden: Erstere waren gewissermaßen vorgefertigt; letztere hingegen haben oft einen hohen Informationswert, weil die Vernehmungsbeamten des NKWD den Werdegang und die Einsätze der Betreffenden genau erfragten. Den Ermittlern lagen meist Versetzungslisten aus dem Lager Trawniki vor, mit denen die Beschuldigten konfrontiert werden konnten. Auf diese Weise kamen weitere Details zum Vorschein, die sich aus den genannten Urkunden nicht unmittelbar entnehmen ließen.68
Als Zwischenfazit lässt sich feststellen, dass die sowjetischen Verfahren rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genügten. Bei den geheimen Schnellverfahren der frühen Nachkriegszeit kann von einem fairen Strafprozess keine Rede sein, obgleich das Urteil in vielen Fällen Angeklagte getroffen haben dürfte, die tatsächlich schuldig waren. Für die zweite Welle sowjetischer Verfahren gegen ehemalige Wachmänner ist eine Konzentration auf tatsächliche NS-Verbrechen und größere Sorgfalt zu konstatieren, doch auch dort war mit der fast sicheren Verurteilung der Angeklagten zu rechnen. Die Rechtsstaatlichkeit kann aber nicht der alleinige Maßstab für die Verwendbarkeit sowjetischer Vernehmungen sein. Für den Historiker sind sie wertvolle Ergänzungen des vorhandenen Wissensstandes. Ich schließe mich insgesamt der Auffassung des Historikers Dieter Pohl an, dass aus pragmatischen Gründen »eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte nationalsozialistischer Verbrechen in Osteuropa ohne die Auswertung der Justizakten kaum möglich erscheint.«69
Dass in den deutschen Vernichtungslagern in Ostpolen »Fremdvölkische« anwesend waren, wusste man in der Bundesrepublik seit der Pubikation des Gerstein-Berichts, also seit den 1950er Jahren.70 Auch in Berichten polnischer Augenzeugen, die von einer staatlichen Kommission zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen erhoben wurden, spielten diese Hilfskräfte eine gewisse Rolle.71 Jedoch konzentrierten sich die Ermittlungen der bundesdeutschen Strafverfolgung auf deutsche Tatverdächtige. Von den umfangreichen Ermittlungs- und Strafverfahren des KBG gegen »Trawnikis« wusste man im Westen nur wenig. Immerhin gelangten einige sowjetische Aussagen in die Akten des umfangreichen Bełżec-Verfahrens der Staatsanwaltschaft München gegen Josef Oberhauser u. a. Es scheiterte de facto.72
In den Strafverfahren gegen mutmaßliche Angehörige der Vernichtungslager Sobibór und Treblinka sowie des Konzentrationslagers Majdanek, in denen zahlreiche Angeklagte zu lebenslanger Haft, andere zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, spielten die »Ukrainer«, »Schwarzen« etc. zwar eine gewisse Rolle, wurden aber nicht als Gruppe ins Auge gefasst.73 Dies tat hingegen das umfangreiche Verfahren der Staatsanwaltschaft Hamburg gegen Karl Streibel, den ehemaligen Kommandanten des SS-Ausbildungslagers Trawniki, und zahlreiche weitere deutsche und nichtdeutsche Beschuldigte wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Vernichtungslagern, Arbeitslagern und Ghettos im Generalgouvernement Polen, vorrangig in den Distrikten Lublin und Warschau.74 Das Hauptverfahren vor dem Landgericht Hamburg endete nach dreieinhalb Jahren im Sommer 1976 mit dem Freispruch aller Angeklagten. Die Akten des Trawniki-Verfahrens, die maßgeblich von der Staatsanwältin Helge Grabitz verfasste Anklageschrift und das Urteil gegen Streibel u. a. sind jedoch eine nach wie vor wesentliche Grundlage für Forschungen über die Trawniki-Männer.75
In der seinerzeit bahnbrechenden Text- und Fotoedition über Massenmörder in den Vernichtungslagern der »Aktion Reinhardt«, welche die Historiker Ernst Klee und Volker Rieß und der Staatsanwalt Willi Dreßen 1988 vorlegten, waren Fotos von »Ukrainern« teils mit falschen Namen versehen76; auch vermittelte das Buch keine Vorstellung über die beträchtliche Zahl nichtdeutscher Täter in den Tötungslagern. Impulse zur Erforschung der Trawniki-Männer gingen seit den 1990er Jahren zunächst von der bereits dargestellten СКАЧАТЬ