Das Fußvolk der "Endlösung". Thomas Sandkühler
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Название: Das Fußvolk der "Endlösung"

Автор: Thomas Sandkühler

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783534746217

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СКАЧАТЬ die beiden Polizeiformationen einschlägige Rechtslage im Generalgouvernement? Welche Rolle spielten die alltäglichen Gewaltinszenierungen und -erfahrungen auf den Straßen einer deutsch besetzten Großstadt und in den Vernichtungslagern der »Aktion Reinhardt«?

      Nach Stefan Kühls Auffassung ist die gegen jüdische Opfer eingesetzte exzessive Gewalt dadurch zu erklären, dass der Auftrag zum Massenmord die Mitglieder der Organisationen mit neuen Aufgaben belastet. Die Organisationsleitung formuliert einen Appell, die Indifferenzzone erneut auszuweiten und die Selbstdarstellung des präsumptiven Töters mit der neuen Realität in Einklang zu bringen. »Exzessive Gewalt gegen andere«, so Kühl, scheint ein »Reparaturmechanismus in der Selbstdarstellung zu sein«112, eine Überwindung von Selbstzweifel und Törungshemmung durch dehumanisierende, demütigende Gewaltpraxen. Diese These könnte die Brutalität der Trawniki-Männer erklären, die schon von deutschen Vorgesetzten hervorgehoben wurde. In der zeitgeschichtlichen Forschung wurde sie vor allem von Helge Grabitz betont.113 Insoweit scheint ein Unterschied zu den ukrainischen Hilfspolizisten bestanden zu haben, über die solches Verhalten eher selten berichtet wurde. Brachten die in Kriegsgefangenenlagern angeworbenen Trawniki-Männer womöglich eine weiter zurückreichende Gewaltsozialisation aus der Sowjetunion mit, die zur Brutalisierung der neuen Organisation beitrug? Ob überschießende Gewalt bei ihnen häufiger war als in der Hilfspolizei, ist aber eine offene Frage.

      Die Quellenlage des vorliegenden Buches ist im Vergleich zu Studien über die Polizeibataillone lückenhaft. Die Akten der Lemberger Schutzpolizei sind gänzlich verloren gegangen oder vernichtet worden. Hier kann ersatzweise auf erhalten gebliebene Akten der ukrainischen Hilfspolizei und deutsches Schriftgut anderer Dienststellen im Oblastarchiv der Stadt Lviv zurückgegriffen werden.114 Hinzu kommen die Überlieferung der Wehrmacht, Zeugenaussagen im Strafverfahren der Staatsanwaltschaft Stuttgart wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Lemberg und Umgebung sowie meist polnischsprachige Erinnerungsliteratur.115

      Die vorliegende Darstellung stützt sich in Teilen auf Monographien über die Judenvernichtung in Ostgalizien, die Dieter Pohl und ich unabhängig voneinander vorgelegt haben.116 Jedoch geht das Buch über diese Forschungsergebnisse insofern hinaus, als die Planung und Durchführung der Mordaktionen in der Hauptstadt des Distrikts Galizien und die ihr zugrunde liegende Einsatzplanung erstmals minutiös rekonstruiert werden.117

      Bezüglich der Trawniki-Männer stellt sich die Quellenlage wieder anders dar.118 Die Dokumentation des OSI bildet die umfangreichste Sammlung von Archivquellen, darunter zahlreiche Personalunterlagen. Auf deren Grundlage konnte erstmals die Rotation der Wachmänner in das Vernichtungslager Bełżec und aus dem Lager heraus rekonstruiert werden.

      Demgegenüber sind Zeugenaussagen aus sowjetischen Verfahren mit erheblicher Vorsicht zu verwenden, weil sie nicht freiwillig zustandekamen, sondern unter dem Zwang der sowjetischen Geheimpolizei. Im Einzelnen weichen die Beurteilungen dieser Quellen sowjetischer Provenienz voneinander ab. Peter Black hält die Vernehmungen für glaubwürdig und verwendbar, obwohl die Verfahren in der UdSSR rechtsstaatlichen Standards nicht entsprachen.119

      Skeptischer äußert sich David Rich, der Chefhistoriker des OSI. Er hebt hervor, dass das KGB als Ermittlungsbehörde und folglich auch die Gerichte in der UdSSR mangels Dokumenten über das politische und organisatorische Umfeld der »Endlösung« gar nicht in der Lage gewesen seien, die Zuverlässigkeit von Aussagen zu überprüfen.120 Dieter Pohl bemängelt ebenfalls die fehlende Rechtsstaatlichkeit in der UdSSR, darüber hinaus die nachgewiesene Unrichtigkeit mancher Beschuldigungen und Geständnisse im Lichte späterer Überprüfungen durch das OSI sowie fehlende individuelle Schuldnachweise in einigen frühen Verfahren in der UdSSR.121

      Für strafprozessuale Aussagen gilt generell, dass Beschuldigte oder Zeugen dann als glaubwürdig gelten können, wenn sie sich nicht untereinander abgesprochen haben können, ihre Aussagen übereinstimmen und zum historischen Kontext passen. Ermittlungen gegen frühere Trawniki-Männer haben zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten der UdSSR stattgefunden. Zeugenabsprachen scheiden praktisch aus. Viele ehemalige Trawniki-Männer wurden in den 1960er Jahren zudem als Zeugen, nicht als Beschuldigte vernommen. Das erhöht ihre Glaubwürdigkeit.

      Hinzu kommt, dass die sowjetischen Vernehmungen, insbesondere in den 1960er Jahren, Erkenntnisse aus den deutschen Ermittlungsverfahren in hohem Maße bestätigen. Die Aussagen deutscher Beschuldigter und Zeugen aus dem Verfahren gegen Josef Oberhauser u. a. (Bełżec) und die sowjetischen Vernehmungen aus jener Zeit bilden gewissermaßen zwei Teilstücke der historischen Realität. Die »gewalttägige Welt« des alltäglichen Mordens in Bełżec lässt sich überhaupt nur auf der Grundlage sowjetischer Aussagen erschließen.122 Darin liegt ihre herausragende Bedeutung für die zeitgeschichtliche Forschung. Es besteht überwiegend Konsens, dass Vernehmungen aus sowjetischen Verfahren verwendet werden können, sofern die Regeln der Quellenkritik eingehalten und die Sachdarstellungen der Beschuldigten durch Vergleiche mit Vernehmungen in westlichen Ländern (vorrangig in der Bundesrepublik) und urkundliche Beweisstücke bestätigt werden können.

      Vergleiche lassen sich auch zwischen den Vernichtungslagern anstellen. So haben sowjetische Vernehmungen über die Diensteinteilung, die Rotation des Personals und die Rolle der Unterführer übereinstimmende Erkenntnisse für Bełżec, Sobibór und Treblinka zutage gefördert, die von Befunden der westlichen historischen Forschung bestätigt werden, diese in einigen Hinsichten sogar ergänzen und vertiefen.

      Im vorliegenden Fall werden die Vernehmungen in der UdSSR auch durch polnische Aussagen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit bestätigt, deren rechtsstaatliche Qualität deutlich günstiger beurteilt wird.123 So haben Zeugen im Ermittlungsverfahren gegen Zuev u. a. freimütig über den Raub des Eigentums ermordeter Juden im Vernichtungslager berichtet; polnische Zeugen auf der ›Abnehmerseite‹ verifizieren diese Aussagen, z. T. sogar mit Namensangaben derselben Personen, die sich in der UdSSR über ihre Unterschlagungen im Lager eingelassen haben.124

      Das vorliegende Buch ging, wie bereits erläutert, aus zwei unveröffentlichten Sachverständigengutachten hervor. Sie wurden für den Zweck dieser Publikation gekürzt und umgeschrieben. Prinzipiell stand ich vor der Alternative einer streng systematischen Gliederung entlang der leitenden Fragestellungen nach Rekrutierungsmustern, Organisationsspezifika und Gewaltpraxen und einem chronologisch-genetischen Durchgang durch sechs Jahre deutscher Vernichtungspolitik. Die Gliederung des Buches stellt einen Kompromiss aus beiden Perspektiven dar: Unter den Leitbegriffen des Tatorts, der Tat und der Täter folgt sie systematischen Erkenntnisinteressen; innerhalb der drei Großkapitel sowie teilweise auch zwischen ihnen stehen die Soziologie der »fremdvölkischen« Organisationen sowie die Eskalationsdynamiken von Verfolgung und Massenmord im Vordergrund. Im Fazit wird der Versuch gemacht, Antworten auf die Fragestellungen des Buches zu geben, offene Probleme zu benennen und weiteren Forschungsbedarf zu identifizieren. –

      Meine Forschungen über den Nationalsozialismus haben von den Anregungen und Schriften des Historikers Michael Wildt erheblich profitiert. Seit einem Jahrzehnt arbeite ich nun mit diesem herausragenden Wissenschaftler und Kollegen an der Berliner Humboldt-Universität zusammen. Über das NS-Regime und seine Schrecken aufzuklären war und ist unser gemeinsames fachliches und hochschuldidaktisches Anliegen. Dieses Buch ist Michael Wildt mit Dank gewidmet.

I. Der Tatort Besatzungspolitik und Judenverfolgung im Generalgouvernement Polen (1939 – 1942)

      1.Das Generalgouvernement

      1.1Der Krieg gegen Polen

      Hitlers Absichten waren unmissverständlich. Als Ziele des Kriegs gegen Polen gab er den Befehlshabern der Wehrmacht die »Vernichtung« des Gegners auf den Weg: »Ziel ist die Beseitigung der lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung einer bestimmten Linie. […] СКАЧАТЬ