Название: Das Zeitalter der Extreme
Автор: Eric Hobsbawm
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783806239669
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Der einzig gewisse Sachverhalt hinsichtlich der Kriegsopfer ist, daß insgesamt mehr Männer als Frauen starben. Noch 1959 kamen in der Sowjetunion sieben Frauen im Alter zwischen fünfunddreißig und fünfzig Jahren auf vier Männer (Milward, 1979, S. 212). Nach Ende dieses Krieges war es einfacher, Gebäude wiederaufzubauen als die Lebenswirklichkeit der Überlebenden.
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Wir nehmen es als gegeben hin, daß der moderne Krieg alle Bürger in Mitleidenschaft zieht und die meisten von ihnen mobilisiert; daß er mit Waffen geführt wird, deren Produktion der Umleitung der gesamten Wirtschaft bedarf und die in unvorstellbaren Mengen eingesetzt werden; daß er unsagbare Zerstörung mit sich bringt und das Leben der beteiligten Staaten vollständig beherrscht und verwandelt. Doch all diese Phänomene traten erst bei den Kriegen des 20. Jahrhunderts auf. Natürlich hat es auch früher schon tragische und zerstörerische Kriege gegeben, auch solche, die die totale Kriegsführung der Moderne vorweggenommen haben, wie zum Beispiel während der Revolution in Frankreich. Und bis heute ist der Bürgerkrieg von 1861–65 der blutigste Krieg in der Geschichte der USA geblieben, in dem so viele Bürger umkamen wie in allen späteren Kriegen zusammen, die in Korea und Vietnam eingeschlossen. Dennoch waren Kriege, die die gesamte Gesellschaft umfassen, vor dem 20. Jahrhundert die große Ausnahme. Jane Austen schrieb ihre Romane während der Napoleonischen Kriege; doch darauf würde kein Leser kommen, der es nicht vorher schon wußte; denn die Kriege tauchen in diesen Büchern gar nicht auf, auch wenn einige von den jungen Herren, die vorkommen, zweifellos an diesen Kriegen teilgenommen haben. Daß ein Schriftsteller des 20. Jahrhunderts während des Krieges einen vergleichbaren Roman über Großbritannien hätte schreiben können, ist unvorstellbar.
Das Monster des totalen Krieges des 20. Jahrhunderts ist nicht ausgewachsen geboren worden. Dennoch waren schon seit 1914 alle Kriege eindeutig Massenkriege. Bereits im Ersten Weltkrieg hatte Großbritannien 12,5 Prozent seiner Männer zum Militär eingezogen, Deutschland 15,4 Prozent und Frankreich beinahe 17 Prozent8. Im Zweiten Weltkrieg lag der Prozentsatz der gesamten arbeitenden Bevölkerung, die eingezogen wurde, überall in etwa bei 20 Prozent (Milward, 1979, S. 216). Nebenbei bemerkt kann ein solches Ausmaß an Massenmobilmachung über Jahre hinweg nur von einem modernen und höchst produktiven, industrialisierten Wirtschaftssystem beibehalten werden oder von einer Wirtschaft, die zu großen Teilen in Händen der nichtkämpfenden Zivilbevölkerung liegt. Traditionell agrarische Ökonomien können für gewöhnlich keinen so hohen Anteil ihrer Arbeitskraft mobilisieren, es sei denn saisonal – zumindest in den milden Klimazonen –, denn im agrikulturellen Jahr gibt es Zeiten, in denen alle Hände gebraucht werden, etwa um die Ernten einzubringen. Selbst in den Industriegesellschaften setzt eine so durchgreifende Mobilisierung der Menschen die Arbeitskraft unter enormen Druck, weshalb die modernen Massenkriege auch nicht nur die Macht von Gewerkschaften stärkten, sondern auch die Frauenarbeit außerhalb des Haushalts revolutionierten – temporär im Ersten und permanent im Zweiten Weltkrieg.
Nochmals, die Kriege des 20. Jahrhunderts waren insofern Massenkriege, als sie im Verlauf der Kämpfe bis dahin unvorstellbare Gütermengen verbrauchten und zerstörten. Daher auch der Begriff Materialschlacht, der geprägt wurde, um Schlachten an der Westfront von 1914–18 zu beschreiben. Napoleon, dem zum Glück nur die extrem begrenzte industrielle Kapazität des Frankreich seiner Tage zur Verfügung gestanden hatte, konnte 1806 mit nur 1500 Artillerieangriffen die Schlacht von Jena gewinnen und damit die Macht Preußens zerstören. Doch selbst vor dem Ersten Weltkrieg hatte Frankreich schon eine Munitionsproduktion von 10 000–12000 Artilleriegeschossen täglich geplant, und am Ende produzierte seine Industrie bereits 200 000 Geschosse täglich. Sogar das zaristische Rußland produzierte 150 000 Geschosse täglich beziehungsweise bis zu viereinhalb Millionen monatlich9. Kein Wunder, daß die Produktionsprozesse in den Maschinenfabriken revolutioniert werden mußten. Aber wir sollten hier auch die weniger destruktiven Kriegswerkzeuge erwähnen: Während des Zweiten Weltkriegs hat die US-Army über 519 Millionen Paar Socken und mehr als 219 Millionen Hosen geordert, wohingegen die deutsche Wehrmacht in wahrer bürokratischer Tradition in einem einzigen Jahr (1943) 4,4 Millionen Scheren und 6,2 Millionen Stempelkissen für die Wehrmachtsbüros bestellt hat (Milward, 1979, S. 68). Der Massenkrieg erforderte die Massenproduktion.
Doch Produktion bedurfte der Organisation und des Managements – vor allem, wenn ihr Ziel die höchst effizient rationalisierte Zerstörung von menschlichem Leben war, wie in den deutschen Vernichtungslagern. Der totale Krieg war das größte dem Menschen bislang bekannte Unternehmen, das bewußt organisiert und gemanagt werden mußte.
Das brachte natürlich ganz neue Probleme mit sich. Den militärischen Angelegenheiten galt schon immer die besondere Aufmerksamkeit von Regierungen, seit diese im 17. Jahrhundert die Oberaufsicht über ständige Armeen (»stehendes Heer«) übernommen hatten und Soldaten nicht mehr mit einem Untervertrag von Militärunternehmern als Söldner ausgeliehen wurden. In der Tat wurden Heere und Kriege zu weit größeren »Industrien« oder Wirtschaftskomplexen als alles, was bislang in der Privatwirtschaft existiert hatte. So kam es, daß im 19. Jahrhundert auch häufig der gutachterliche Rat und die Managementfähigkeit des Militärs von den riesigen Privatunternehmen gesucht wurden, die während der Industrialisierungsphase entstanden: beispielsweise für Eisenbahnprojekte oder Hafenanlagen. Außerdem waren fast alle Regierungen in der Produktion von Waffen und Kriegsmaterial tätig, obwohl sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor allem im High-Tech-Sektor von Artillerie und Marine eine Art Symbiose zwischen den Regierungen und den auf Waffenproduktion spezialisierten Privatunternehmen entwickelte, die den heute allseits bekannten »militärisch-industriellen Komplex« vorwegnahm (siehe Das imperiale Zeitalter, Kapitel 13). In der Zeit zwischen der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg war man grundsätzlich davon ausgegangen, daß die Wirtschaft in Kriegszeiten wenn irgend möglich genauso funktionieren müsse wie in Friedenszeiten (business as usual), obgleich einige Industriezweige von den Kriegsauswirkungen natürlich besonders profitieren konnten, wie beispielsweise die Bekleidungsindustrie, die weit über das in Friedenszeiten vorstellbare Maß hinaus Uniformen produzieren mußte.
Das Hauptproblem einer Regierung war in ihren Augen fiskalischer Natur: Wie sollte man diese Kriege bezahlen? Sollte man es mit Kriegsanleihen versuchen oder über eine direkte Kriegssteuer? Und wie sollten die genauen Bedingungen dafür aussehen? Logischerweise glaubte man deshalb auch, daß die eigentlichen Befehlshaber der Kriegswirtschaft in erster Linie die Schatzkammern oder Finanzministerien seien. Doch der Erste Weltkrieg, der so viel länger dauerte und so viel mehr Männer und Waffen verschliß, als von den Regierungen zuvor angenommen, machte business as usual und die Vorherrschaft von Finanzministerien unmöglich. Und schon damals schüttelten Finanzbeamte (wie der junge Maynard Keynes in Großbritannien) den Kopf über die Bereitwilligkeit der Politiker, auf Siegeskurs zu gehen, ohne dessen finanzielle Kosten zu kalkulieren. Sie hatten natürlich recht. Großbritannien führte beide Kriege weit über seine Mittel hinaus, was lang andauernde negative Folgen für seine Wirtschaft haben sollte. Wo Krieg nach allen nur erdenklichen modernen Maßstäben geführt werden soll, da müssen nicht nur seine spezifischen, sondern die gesamten Produktionskosten – und schließlich die gesamte Wirtschaft – entsprechend berechnet, geplant und gemanagt werden.
Das wurde den Regierungen erst durch СКАЧАТЬ