Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel Proust
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Название: Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen

Автор: Marcel Proust

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788027208821

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СКАЧАТЬ müsse, auffordern, mich mitzunehmen. Durch diese Worte und die Entspannung, die sie mir verschafften, unterdrückte Swann mit einem Schlage in meinem Innern die qualvollen Distanzgefühle, die uns eine geliebte Frau so fern erscheinen lassen. In solchen Augenblicken empfand ich für ihn eine zärtliche Zuneigung, die mir tiefer vorkam als meine Zuneigung zu Gilberte. Er, der Gebieter seiner Tochter, gab sie mir, sie aber versagte sich bisweilen, ich hatte über sie direkt nicht eben jene Macht wie indirekt durch Swann. Sie selber liebte ich doch und konnte sie daher nicht ohne Verwirrung ansehen, nicht ohne das Verlangen nach mehr, welches in Gegenwart des geliebten Wesens das Gefühl aufhebt, daß wir lieben.

       Meist aber blieben wir nicht im Hause, sondern fuhren spazieren. Bisweilen setzte sich Frau Swann, bevor sie ging sich anzukleiden, ans Klavier. Ihre schönen Hände glitten aus den rosa oder weiß gefärbten, oft auch sehr bunten Ärmeln ihres Morgenrocks aus Crêpe de Chine und ließen die Fingerglieder mit derselben Melancholie auf die Tasten nieder, die auch in ihren Augen, nicht aber in ihrem Herzen war. An einem solchen Tage geschah es, daß sie mir den Teil der Sonate von Vinteuil vorspielte, in dem sich die kleine Passage befindet, die Swann so sehr geliebt hatte. Aber oft versteht man nichts, wenn man etwas komplizierte Musik zum erstenmal hört. Und doch war mir, als man mir später ein paarmal diese Sonate vorspielte, als ob ich sie genau kenne. Man sagt darum nicht mit Unrecht ›zum ersten Male hören‹. Hätte man, wie man meint, beim ersten Male gar nichts verstanden, so würden das zweite und dritte Mal nicht anders sein als das erste, und es gäbe keinen Grund, beim zehnten Male mehr zu verstehen. Was beim ersten Male fehlen dürfte, ist weniger das Verstehen als das Gedächtnis. Unser Gedächtnis ist, im Verhältnis zu dem Komplex von Eindrücken, dem es, während wir zuhören, standzuhalten hat, minimal, so kurz wie das eines Menschen, der tausend Dinge im Schlaf denkt, die er alsbald vergißt, oder das eines halb kindisch Gewordenen, der eine Minute später sich nicht mehr an Worte erinnert, die man ihm eben gesagt hat. Für so vielfältige Eindrücke vermag uns das Gedächtnis Erinnerung nicht unmittelbar zu liefern. Aber nach und nach formt sich diese in ihm; bei Kunstwerken, die wir zwei- oder dreimal gehört haben, gleichen wir dem Schüler, der vor dem Einschlafen eine Lektion, die er nicht zu können meinte, mehrere Male durchgelesen hat und sie am nachten Morgen dann auswendig hersagt. Bis zu jenem Tage hatte ich noch nichts von der Sonate gehört, und da, wo Swann und seine Frau mit Deutlichkeit eine Passage unterschieden, blieb diese meiner bewußten Wahrnehmung so fern wie ein Name, auf den man sich zu besinnen sucht, an dessen Stelle man aber nur ein Nichts findet, ein Nichts, aus dem eine Stunde später unverhofft die Silben von selbst mit einem Schlage hervorbrechen werden, um die man sich erst vergeblich bemüht hat. Wahrhaft erlesene Werke behält man nicht nur nicht gleich, sondern nimmt innerhalb dieser Werke – und so geschah es auch mir mit der Sonate von Vinteuil – zuerst nur die unbedeutendsten Teile wahr. Es war ein Irrtum von mir zu meinen, dies Werk behalte mir nichts mehr vor, weswegen ich mich lange Zeit nicht darum bemühte, es wieder zu hören, nachdem Frau Swann mir die berühmteste Stelle vorgespielt habe; darin war ich töricht wie die, welche sich keine Überraschung von San Marco in Venedig erhoffen, weil sie die Form der Kirchenkuppeln schon aus der Photographie kennen. – Aber mehr noch: auch als ich die Sonate ganz bis zu Ende gehört hatte, blieb sie mir fast unsichtbar wie ein Bauwerk, von dem Entfernung oder Nebel nur schwache Umrisse lassen. Daher die Melancholie, die mit der Kenntnis solcher Werke sich verknüpft wie mit allem, was in der Zeit sich verwirklicht. Als mir in der Sonate von Vinteuil das Heimlichste sich enthüllte, hatte Gewohnheit meine Aufnahmefähigkeit schon geschwächt und, was ich zu allererst verstanden und besonders geliebt hatte, entging mir nun, ließ mich kalt. Und da ich alles, was die Sonate mir gab, nur in verschiedenen, einander folgenden Zeiträumen habe lieben können, besaß ich sie nie ganz und gar; es ging mir mit ihr wie mit dem Leben. Aber in einem Punkte ist große Kunst nicht so enttäuschend wie das Leben, sie gibt uns nicht gleich anfangs ihr Bestes. In der Sonate von Vinteuil wird man der Schönheiten, die man am ehesten entdeckt, auch am schnellsten müde, weil diese Teile sich eben am wenigsten von schon Bekanntem unterscheiden. Wenn sie uns aber ferngerückt sind, bleibt die Liebe zu einer Passage, deren Aufbau,– zu neu, um unserem Geist etwas anderes als Verwirrung zu bereiten, – sie uns unzugänglich gemacht, unberührt aufbewahrt hat; und nun kommt gerade sie, an der wir täglich vorübergingen, ohne es zu wissen, sie, die aufgesparte, durch die Macht ihrer Schönheit unsichtbar gewordene, die unbekannt gebliebene, als letzte zu uns. Von ihr werden wir aber auch als letzter lassen. Wir werden sie länger lieben als die andern, weil wir mehr Zeit gebraucht haben, um sie lieben zu lernen. Und diese Zeit, die ein Individuum braucht – wie ich bei dieser Sonate –, um in ein tieferes Werk einzudringen, ist nur der Abriß, gleichsam das Symbol der Jahre, bisweilen der Jahrhunderte, die vergehen, ehe das Publikum ein wahrhaft neues Meisterwerk lieben kann. So wird denn der geniale Mensch, um dem Mißverständnis der Menge zu entgehen, sich vielleicht sagen, Werke, die für die Nachwelt geschrieben sind, sollten auch nur von ihr gelesen werden, da den Zeitgenossen der nötige Abstand fehlt, und es so geht wie bei gewissen Bildern, die man aus der Nähe schlecht beurteilen kann. Aber in Wirklichkeit ist jede feige Vorsicht, um falsche Urteile zu vermeiden, nutzlos, sie sind unvermeidlich. Ein geniales Werk findet beim Erscheinen so wenig Bewunderung, weil der, welcher es geschrieben, ein außerordentlicher Mensch ist und wenig Leute ihm ähneln. Doch wird sein Werk die seltenen Geister, die fähig sind, es zu verstehen, befruchten, und ihre Zahl wird sich mehren. Die Quartette von Beethoven (das zwölfte, dreizehnte, vierzehnte und fünfzehnte) haben fünfzig Jahre gebraucht, um ihr Publikum sich zu schaffen und es zu mehren und so, wie alle Meisterwerke, einen Fortschritt, wenn nicht im Werte der Künstler, so doch in der Gesellschaft der Geister verwirklicht, die heut voller Wesen ist, die das Meisterwerk lieben können; und solche Wesen waren zur Zeit seines Erscheinens unauffindbar. Was man Nachwelt nennt, ist die Nachkommenschaft des Werkes. Das Werk (um der Einfachheit halber Genies nicht mit in Betracht zu ziehen, die in derselben Epoche parallel ein besseres Publikum für die Zukunft vorbereiten können, das dann wieder anderen Genies entgegenkommt) – das Werk schafft selbst seine Nachwelt. Wird das Werk also geheimgehalten und erst der Nachwelt bekanntgegeben, so wird diese für das Werk nicht Nachwelt, sondern ein Haufe von Zeitgenossen sein, die einfach fünfzig Jahre später leben. Drum muß der Künstler – und das tat Vinteuil – wenn er will, daß das Werk seinen Weg nimmt, es da, wo Tiefe genug ist, mitten in die ferne Zukunft hineinwerfen. Wenn es der Irrtum der schlechten Kunstrichter ist, mit dieser Zukunft, der eigentlichen Perspektive der Meisterwerke, nicht zu rechnen, so ist es bei den guten Kritikern gefährliche Gewissenhaftigkeit, mit ihr zu rechnen. Da uns am Horizont alle Dinge gleichförmig erscheinen, ist es zu verstehen, wenn wir uns einbilden, alle Revolutionen, die bisher in der Malerei und Musik stattgefunden haben, hätten immerhin sich an gewisse Regeln gehalten und nur, was unmittelbar vor uns liegt, Impressionismus, absichtliche Dissonanz, ausschließliche Anwendung der chinesischen Skala, Kubismus, Futurismus, steche grell von dem Vorhergegangenen ab. Vorhergegangenes sieht man eben an, ohne in Betracht zu ziehen, daß eine lange Assimilation es für uns in eine zwar vielfältige, aber im ganzen doch homogene Masse verwandelt hat, in der Victor Hugo Molières Nachbar ist. Bedenken wir doch nur, welch verdrießliche Mißverhältnisse ein Horoskop unseres eigenen reifen Alters, das man uns während unserer Jugend gestellt hat, ergeben würde, wenn wir nicht mit der Zukunft und den Änderungen, die sie mit sich bringt, rechneten. Allein, die Horoskope stimmen nicht immer, und wenn man bei einem Kunstwerk in das Gesamtwesen seiner Schönheit den Faktor Zeit mit einbeziehen soll, mengt man, unseres Erachtens, etwas so Zufälliges und darum ebenso jedes wahren Interesses Entbehrendes ein wie jede Prophezeiung es ist, deren Nichterfüllung ja die geistige Mittelmäßigkeit des Propheten nicht einschließt, denn was die Möglichkeit schafft oder ausschließt, dafür ist das Genie nicht notwendigerweise kompetent; es kann einer Genie besessen haben, ohne an die Zukunft der Eisenbahn oder des Flugzeugs geglaubt zu haben, es kann einer ein großer Psychologe sein, ohne die Falschheit der Geliebten oder des Freundes zu merken, deren Untreue mittelmäßigere Leute vorhergesehen hätten.

      Wenn ich die Sonate nicht verstand, so war ich doch entzückt, Frau Swann spielen zu hören. Ihr Anschlag hatte für mich in Verbindung mit ihrem Peignoir, dem Duft auf ihrer Treppe, ihren Mänteln und Chrysanthemen teil an einem eigentümlichen, geheimnisvollen Ganzen und gehörte in eine Welt, die weit über der stand, in welcher Vernunft das Talent analysieren kann »Nicht wahr? Schön ist diese Sonate von Vinteuil!« sagte Swann zu mir. »Der Augenblick, wenn es Nacht wird unter СКАЧАТЬ