Название: Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen
Автор: Marcel Proust
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027208821
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»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, antwortete die Herzogin. »Und obendrein war sie noch eingeschüchtert, aber Sie werden sehen, sie kann reizend sein.«
»Sie ist bei weitem nicht so enervierend wie Frau X (die Gattin des geschwätzigen Akademikers, eine hervorragende Frau), die einem aus zwanzig Büchern zitiert.«
»Man kann die beiden gar nicht nebeneinander nennen.«
Die Fähigkeit, so etwas, noch dazu aufrichtig, zu sagen, hatte Swann bei der Herzogin erworben und beibehalten. Jetzt wandte er sie auf die Leute an, die er empfing. Er bemühte sich, an ihnen die Eigenschaften wahrzunehmen und zu lieben, die jedes menschliche Wesen offenbart, wenn man es mit günstigem Vorurteil und nicht mit dem Widerwillen der Reizbaren prüft; er brachte die Vorzüge der Frau Bontemps zur Geltung wie ehedem die der Prinzessin von Parma, die aus dem Kreis Guermantes hätte ausgeschlossen werden müssen, wenn dort nicht gewisse Hoheiten von vornherein freien Zutritt gehabt hätten, und man bei ihnen auf Geist und einen gewissen Charme ernsthaft Wert gelegt hätte. Wie man bereits früher gesehen hat, lag es Swann nahe (und davon machte er jetzt wieder eine, nur dauerhaftere, Anwendung), seine gesellschaftliche Stellung gegen eine andre zu vertauschen, die ihm unter gewissen Umständen besser zusagte. Nur wer unfähig ist, bei der Wahrnehmung aufzulösen, was auf den ersten Blick unteilbar scheint, glaubt an die Zusammengehörigkeit des Menschen mit seiner Situation. In den aufeinanderfolgenden Momenten seines Lebens bewegt sich jemand in verschiedenen Graden der gesellschaftlichen Skala und nicht notwendigerweise in immer höheren; und jedesmal, wenn wir in einer neuen Periode des Daseins die Verbindung mit einem bestimmten Kreise anknüpfen oder wiederanknüpfen und uns darin behaglich und verwöhnt fühlen, beginnen wir ganz von selbst, anhänglich zu werden, und schlagen menschliche Wurzeln.
Was Frau Bontemps anlangt, so sprach Swann, glaube ich, wohl deshalb so eindringlich von ihr, weil ihm der Gedanke nicht unangenehm war, meine Eltern erfahren zu lassen, daß seine Frau von ihr Besuch empfing. In Wahrheit reizten bei uns zu Hause die Namen der Personen, die Frau Swann nach und nach kennen lernte, die Neugier mehr, als daß sie Bewunderung erregt hätten. Als in diesem Zusammenhang der Name der Frau Trombert genannt wurde, sagte meine Mutter:
»Ah, da hat sie einen neuen Rekruten, der wird ihr andere zuführen.«
Und als vergliche sie die etwas summarische, rasche, heftige Art, mit der Frau Swann ihre Beziehungen sich erobere, mit Kolonialkriegen, fügte Mama hinzu: »Jetzt, da die Trombert unterworfen sind, werden die Nachbarstämme sich ohne Zögern ergeben.«
Wenn sie Frau Swann auf der Straße gesehn hatte, sagte sie zu Hause:
»Ich habe Frau Swann auf dem Kriegspfad getroffen, sie muß wieder einmal auf einen ertragreichen Vorstoß gegen die Massekutos, Singhalesen oder Trombert ausgezogen sein.«
Und von allen neuerschienenen Personen, die ich in diesem etwas zusammengewürfelten, künstlichen Kreise sah, in den sie oft ziemlich mühsam und aus sehr verschiedenen Gegenden hereingeholt waren, erriet sie sofort die Herkunft und sprach von ihnen wie von teuer erkauften Trophäen. »Erbeutet auf einer Expedition bei dem und dem«, pflegte sie zu sagen.
Daß Frau Swann auch Frau Cottard, eine nicht gerade elegante Bourgeoise, heranzuziehen vorteilhaft fand, wunderte meinen Vater. »Ich muß bekennen, daß ich es trotz der hohen Stellung des Professors nicht begreife«, meinte er. Die Mutter hingegen begriff es sehr gut; sie wußte, es macht einer Frau nur halbe Freude, in ein neues, von ihrem früheren verschiedenes Milieu einzudringen, wenn sie nicht ihre ehemaligen Beziehungen von den verhältnismäßig glänzenderen unterrichten kann, die jene ersetzt haben. Dazu bedarf es eines Zeugen, den man in die neue, köstliche Welt eindringen läßt wie ein brummendes, flüchtiges Insekt in eine Blume, damit er dann bei andern Besuchen von ungefähr – so hofft man wenigstens – die Nachricht ausstreut, den heimlichen Keim zu Neid und Bewunderung. Frau Cottard war für diese Rolle wie geschaffen, sie gehörte zu der Kategorie von Gästen, welche Mama, die von ihres Vaters Geistesart Einiges geerbt hatte, »Fremder, verkünde in Sparta!« nannte. Nebenbei gesagt hatte Frau Swann – von einem andern Grunde abgesehen, den man erst viele Jahre später erfuhr –, wenn sie diese wohlwollende, zurückhaltende, bescheidene Freundin berief, nicht zu befürchten, sie führe zu ihren glänzenden »Jours« einen Verräter oder Konkurrenten bei sich ein. Sie wußte, wieviel bürgerliche Blumenkelche diese fleißige Arbeitsbiene, wenn sie, mit Reiherfeder und Visitenkartentäschchen bewaffnet, ausging, an einem einzigen Nachmittag besuchen konnte. Sie kannte ihre Verbreitungsfähigkeit und, fußend auf Wahrscheinlichkeitsberechnung, besaß sie Gründe, anzunehmen, daß wohl schon zwei Tage später ein oder der andere Stammgast der Verdurin erfahren werde, daß der Stadtkommandant von Paris seine Karte bei ihr abgegeben habe, oder daß Herr Verdurin selbst erzählt bekäme, Herr Le Hault de Pressagny, der Präsident des Rennklubs, habe sie und Swann zur Gala des Königs Theodosius mitgenommen; sie vermutete, die Verdurin würden nur von diesen beiden für sie schmeichelhaften Ereignissen erfahren. In dieser Beziehung beschränkt sich unser Ahnen und Streben auf wenige Möglichkeiten: kann doch unsere Einbildungskraft nicht alle Formen des Ruhmes gleichzeitig erfassen, wenn wir sie auch – im großen ganzen – alle zugleich erhoffen.
Übrigens hatte Frau Swann nur in der sogenannten »offiziellen« Gesellschaft Resultate erzielt. Die eleganten Frauen gingen nicht zu ihr. Sie wurden nicht etwa durch die Gegenwart republikanischer Notabeln verscheucht. Zur Zeit meiner frühen Kindheit war allerdings nur, wer zur konservativen Gesellschaft gehörte, mondän, und in einem angesehenen Salon hätte man keinen Republikaner empfangen können. Die Menschen, die in einem solchen Milieu lebten, bildeten sich ein, das gesellschaftliche Gesetz, nie einen Opportunisten zu empfangen, geschweige denn einen abscheulichen Radikalen, sei von ewiger Dauer wie Öllampen und Pferdeomnibusse. Aber wie ein Kaleidoskop placiert die Gesellschaft nacheinander die Elemente, die man für unbeweglich hielt, auf immer neue Art und bildet immer andere Figuren. Ich hatte meine erste Kommunion noch nicht, und schon begegneten Damen der konservativen Gesellschaft bei einem Besuch zu ihrem großen Erstaunen einer eleganten Jüdin. Diese Neuordnung des Kaleidoskops beruht auf einem Vorgang, den ein Philosoph einen Kriterienwechsel nennen würde. Die Dreyfusaffäre führte wieder einen neuen herbei. Das war zu einer Zeit, der meine ersten Besuche СКАЧАТЬ