Название: Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen
Автор: Marcel Proust
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027208821
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Von seinen Besuchen kam Swann oft erst kurz vor dem Essen heim. Um diese Zeit, sechs Uhr abends, hatte er früher immer sich unglücklich gefühlt; jetzt fragte er sich nicht mehr, was Odette wohl vorhabe, kümmerte sich wenig darum, ob sie ausgegangen sei oder Besuch habe. Bisweilen erinnerte er sich; daß er vor Jahren einmal versucht hatte, einen Brief von Odette an Forcheville durch den Umschlag hindurch zu lesen. Aber diese Erinnerung war ihm nicht angenehm, und statt dem Schamgefühl, das er damals empfand, tiefer nachzuspüren, ließ er es lieber bei einem leisen Zucken der Mundwinkel bewenden, zu dem allenfalls noch ein Kopfschütteln kam, das bedeutete: »Was mir das schon ausmacht?« Jetzt urteilte er gewiß anders über die Hypothese, bei der er sich damals oft beruhigt hatte: nur die Einbildungen seiner Eifersucht verdunkeln das in Wahrheit unschuldige Leben Odettes. Diese im großen und ganzen recht wohltuende Hypothese, die während der Dauer seiner Liebeskrankheit seine Schmerzen gemindert hatte, weil sie sie als eingebildet erscheinen ließ, war jetzt für ihn nicht mehr zutreffend; jetzt meinte er, daß seine Eifersucht richtig gesehen und Odette, gerade, wenn sie ihn mehr geliebt habe, als er geglaubt, ihn auch mehr betrogen habe. Ehedem, während er so sehr litt, hatte er sich geschworen, sobald er Odette nicht mehr liebe und nicht mehr zu fürchten habe, sie zu erzürnen oder glauben zu machen, daß er sie zu sehr liebe, wolle er sich die Befriedigung verschaffen, mit Odette zusammen einfach aus Liebe zur Wahrheit und wie einem historischen Faktum dem nachzugehen, ob, ja oder nein, Forcheville bei ihr geschlafen habe an jenem Tage, als er, Swann, läutete und ans Fenster klopfte, ohne daß ihm aufgemacht wurde, und als sie Forcheville schrieb, es sei ein Onkel sie besuchen gekommen. Aber das interessante Problem, zu dessen Aufklärung er nur erst warten mußte, bis seine Eifersucht aufhörte, hatte gerade, als das geschah, alles Interesse für ihn verloren. Nicht sofort allerdings. Auf Odette selbst fühlte er schon keine Eifersucht mehr, als noch jener Nachmittag, an dem er vergeblich an die Tür des kleinen Hauses in der rue Lapérouse geklopft hatte, weiter dieses Gefühl in ihm erweckte. Wie manche Krankheiten, die ihren Sitz, ihre Ansteckungsquelle weniger in gewissen Personen als in gewissen Orten, in gewissen Häusern haben, schien die Eifersucht weniger Odette selbst zum Gegenstand zu haben als den Tag und die Stunde der verlorenen Vergangenheit, in der Swann an alle Zugänge von Odettes Haus geklopft hatte. Es war, als habe dieser Tag und diese Stunde allein einige letzte Teilchen des Menschen, der da liebte (der Swann ehemals war), festgehalten, als fände er sie nur noch in ihnen wieder. Längst kümmerte er sich nicht mehr darum, ob Odette ihn betrogen habe und noch betrüge. Und doch hatte er Jahre hindurch früheren Bedienten von Odette immer wieder nachgeforscht, so lange bestand in ihm die schmerzhafte Neugier fort, ob an jenem schon so weit zurückliegenden Tage um sechs Uhr Odette mit Forcheville geschlafen habe. Dann war auch diese Neugier verschwunden, ohne daß deshalb seine Nachforschungen aufhörten. Immer noch suchte er zu erfahren, was ihn nicht mehr interessierte, denn sein altes Ich verfuhr, im äußersten Verfall, der es betroffen hatte, noch mechanisch nach längst abgeschafften Voreingenommenheiten, und Swann konnte sich doch die Bangigkeit schon gar nicht mehr vergegenwärtigen, die einst so stark gewesen war, daß er sich nicht hatte vorstellen können, je von ihr frei zu werden, daß nur der Tod der Geliebten (der Tod, der, wie später in dieser Erzählung ein grausamer Gegenbeweis erhärten wird, in nichts die Schmerzen der Eifersucht mindert) ihm imstande schien, die ganz versperrte Straße seines Lebens wieder zu bahnen.
Aber eines Tages die Begebenheiten in Odettes Leben, denen er seine Leiden verdankte, aufzuklären, war nicht Swanns einziger Wunsch; er hatte noch den andern in Reserve, sich zu rächen, wenn er Odette nicht mehr liebte, nicht mehr fürchtete; diesen zweiten Wunsch zu erfüllen, bot sich nun gerade Gelegenheit: Swann liebte eine andere Frau, die ihm keinen Anlaß zur Eifersucht gab, auf die er aber doch eifersüchtig war; denn er war nicht mehr fähig, seine Art zu lieben zu erneuern, und die, welche sich an Odette gewandt, diente ihm auch für eine andere. Damit Swanns Eifersucht wieder erwachte, brauchte diese Frau nicht untreu zu sein, es genügte, daß sie aus irgend einem Grunde fern war, auf einer Gesellschaft zum Beispiel, und sich dort anscheinend gut unterhielt. Das reichte hin, um die alte Bangigkeit in ihm zu erwecken, diesen jämmerlichen, widerspruchsvollen Auswuchs seiner Liebe, durch den Swann von der Wirklichkeit sich entfernte; das kam über ihn wie ein Bedürfnis, das tatsächliche Gefühl dieser jungen Frau für ihn herauszubekommen, die verborgene Sehnsucht ihrer Tage, das Geheimnis ihres Herzens; denn zwischen Swann und die, die er liebte, häufte seine Bangigkeit spröden, veralteten Argwohn, der seine Ursache in Odette oder vielleicht schon in einer Vorgängerin von Odette hatte und den gealterten Liebenden seine Geliebte von heute nur durch das alte Kollektivphantom СКАЧАТЬ