Название: Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen
Автор: Marcel Proust
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027208821
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Als Frau Swann zu ihren Besuchen zurückgekehrt war, hörten wir sie noch eine Weile sprechen und lachen, denn schon vor zwei Personen hob sie die Stimme, als gelte es, der ganzen ›Kompagnie‹ die Stirn zu bieten, und ließ ihre Worte los, wie sie es so oft in dem ›kleinen Clan‹ bei der ›Patronne‹ beobachtet hatte, wenn diese ›die Unterhaltung dirigierte‹. Ausdrücke, die wir frisch von andern übernommen haben, gebrauchen wir, wenigstens eine Zeitlang, besonders gern: so wählte Frau Swann bald die, welche sie den distinguierten Leuten abgelauscht hatte, mit denen ihr Gatte sie unvermeidlich bekannt machen mußte, bald gewöhnlichere aus ihrem früheren Freundeskreis und suchte sie in alle Geschichten einfließen zu lassen, die sie nach einer Gewohnheit, welche aus dem ›kleinen Clan‹ stammte, zu erzählen pflegte. Hinterdrein sagte sie gern: »Diese Geschichte liebe ich sehr«, oder »Sie müssen gestehen, diese Geschichte ist nicht uneben!« eine Wendung, die sie durch ihren Gatten von den Guermantes hatte, welche sie gar nicht kannte.
Als Frau Swann das Eßzimmer verlassen hatte, ließ sich ihr Gatte, der gerade nach Hause kam, bei uns sehen. »Weißt du, ob deine Mutter allein ist, Gilberte?«
»Nein, sie hat noch Besuch, Papa.«
»Wie? Noch um sieben Uhr? Das ist ja schrecklich. Die arme Frau muß ganz erschöpft sein. Es ist abscheulich. Denken Sie nur,« wandte er sich an mich, »seit zwei Uhr nachmittags. Und Camille sagte mir, zwischen vier und fünf seien gut zwölf Personen gekommen. Was sage ich: zwölf? Ich glaube, er hat von vierzehn gesprochen. Nein, doch zwölf, kurzum, ich weiß nicht mehr. Beim Nachhausekommen habe ich nicht daran gedacht, daß ihr Jour ist, als ich nun all die Wagen vor der Tür sah, glaubte ich, es sei eine Hochzeit im Hause. Während der paar Minuten, die ich in meiner Bibliothek bin, hat es nicht aufgehört zu klingeln, mein Ehrenwort, ich habe schon Kopfschmerzen. Und es sind immer noch viele Leute bei ihr?«
»Nein, nur zwei.«
»Weißt du, wer?«
»Frau Cottard und Frau Bontemps.«
»Ah, die Frau des Kabinettchefs im Ministerium der öffentlichen Arbeiten.«
»Ich weiß, daß ihr Mann in einem Ministerium angestellt ist, aber als was, das weiß ich nicht genau«, sagte Gilberte in falsch kindlichem Ton.
»Närrchen, du sprichst ja wie ein zweijähriges Kind. In einem Ministerium angestellt, sagst du? Er ist ganz einfach Kabinettchef, Chef von der ganzen Bude, ja sogar – wo habe ich meinen Kopf? Ich bin wahrhaftig gerade so zerstreut wie du – er ist nicht Kabinettchef, er ist Kabinettsdirektor.«
»Weiß ich doch nicht! Das ist wohl sehr viel, Kabinettsdirektor sein?« antwortete Gilberte, die keine Gelegenheit versäumte, alles, worauf ihre Eltern eitel waren, mit Gleichgültigkeit zu behandeln. (Sie konnte sich übrigens auch denken, sie mache eine glänzende Beziehung nur noch glänzender, wenn sie scheinbar keinen besondern Wert darauf legte.)
»Wie? Ob das viel ist?« rief Swann; er zog der Bescheidenheit, die mich im Zweifel lassen konnte, eine bestimmtere Sprache vor. »Schlechthin der erste nach dem Minister! Er ist sogar mehr als Minister, denn er macht alles. Er scheint, nebenbei gesagt, eine Kapazität zu sein, eine Kraft ersten Ranges und eine durchaus distinguierte Persönlichkeit. Offizier der Ehrenlegion! Ein reizender Mensch und obendrein noch ein hübscher Bursche.«
Seine Frau hatte ihn übrigens aller Welt zum Trotz geheiratet, weil er so reizend war. Er hatte – und das genügt, um ein seltenes, köstliches Gesamtbild zu geben – einen blonden, seidigen Bart, hübsche Züge, sprach durch die Nase, roch aus dem Mund und trug ein Glasauge.
»Wissen Sie,« wandte sich Swann wieder an mich, »mir macht es viel Spaß, diese Leute in unserer heutigen Regierung zu sehen, es sind die Bontemps vom Hause Bontemps-Chenut, Typ der reaktionären, klerikalen Bourgeoisie mit beschränkten Ideen. Ihr seliger Großvater hat, wenigstens von Ruf und vom Sehen, den guten alten Chenut wohl gekannt, der Kutschern nie über einen Sou Trinkgeld gab, obwohl er für seine Zeit reich war, den Baron Bréau-Chenut auch. Das ganze Vermögen ist beim Krach der Union Générale draufgegangen. Sie sind noch zu jung, um davon gehört zu haben; na, inzwischen hat man sich wieder herausgemacht, so gut es ging.«
»Es ist der Onkel einer Kleinen, die in meinen Kursus ging, aber in eine Klasse weit unter meiner, der berühmten ›Albertine‹. Sie wird sicher einmal sehr ›fast‹, vorläufig hat sie eine komische Art, sich zu benehmen.«
»Meine Tochter ist erstaunlich, sie kennt alle Welt.«
»Ich kenne sie nicht. Ich habe sie nur vorüberkommen sehen, da hieß es Albertine hier, Albertine da. Aber Frau Bontemps kenne ich, sie gefällt mir auch nicht.«
»Sehr unrecht von dir, sie ist reizend, hübsch, klug, sogar geistreich. Ich will ihr guten Tag sagen und sie fragen, ob ihr Mann glaubt, daß wir Krieg bekommen werden, und ob man auf den König Theodosius rechnen kann. Er muß es wissen, nicht wahr? Er ist in die Geheimnisse der Götter doch eingeweiht.«
So sprach Swann früher nicht. Aber man hat ja oft gesehen, wie Prinzessinnen von Geblüt, die sich erst sehr einfach gaben, wenn sie sich zehn Jahre später von einem Kammerdiener entführen ließen und nun wieder in guter Gesellschaft verkehren möchten und merken, daß man nicht gern zu ihnen kommt, die Sprache schnöder Schwätzerinnen wie von selbst annehmen und bei Erwähnung einer beliebten Herzogin sagen: »Sie war gestern bei mir« sowie »Ich lebe sehr zurückgezogen.« Es ist überflüssig, die Sitten zu studieren, man kann sie aus psychologischen Gesetzen ableiten.
Die Swann teilten die Verschrobenheit der Leute, zu denen man wenig kommt; der Besuch, die Einladung, ein einfaches, liebenswürdiges Wort von einigermaßen hervorragenden Persönlichkeiten waren für sie Ereignisse, denen sie eine gewisse Öffentlichkeit zu geben wünschten. Wollte es das Unglück, daß die Verdurin in London waren, wenn Odette ein etwas glänzenderes Diner gab, so traf man Anstalten, ihnen diese Nachricht durch einen gemeinsamen Freund über den Kanal kabeln zu lassen. Nicht einmal schmeichelhafte Briefe und Telegramme, die Odette bekam, konnten die Swann für sich behalten. Man sprach darüber zu den Freunden, man ließ sie von Hand zu Hand gehen. Und so glich der Salon der Swann den Kurhotels, wo die Depeschen angeschlagen werden.
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