Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel Proust
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Название: Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen

Автор: Marcel Proust

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9788027208821

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СКАЧАТЬ vergessen habe, die Krawatte zu binden. In diesem Zweifel und, um auf alle Fälle Versäumtes auszugleichen, antwortete er grob: »Ich bin nicht gewohnt, meine ärztlichen Vorschriften zu wiederholen. Geben Sie mir eine Feder. Milchkur vor allem! Später, wenn wir die Krisen und die Agrypnie kleingekriegt haben, können Sie von mir aus mal eine Suppe essen und dann durchgeschlagenes Gemüse, aber immer Milch dazu, »au lait«. Das wird Ihnen Spaß machen, denn Spanien ist Mode, ollé, ollé!« (Seine Schüler kannten dieses Wortspiel von ihm, im Krankenhaus machte er es jedesmal, wenn er einen Herz- oder Leberkranken auf Milchkur setzte). »Dann werden Sie Schritt für Schritt zum Familientisch zurückkehren. Aber so oft der Husten und die Atembeschwerden wieder erscheinen, Abführmittel, Ausspülung der Eingeweide, Bett, Milch!« Mit eisiger Miene, ohne zu antworten, hörte er die letzten Einwände meiner Mutter an. Er verließ uns, ohne sich zur Erklärung der Gründe für das vorgeschriebene Regime herabzulassen; meine Eltern fanden es in meinem Fall gar nicht angebracht, unnütz schwächend, und ließen mich keinen Versuch damit machen. Natürlich suchten sie dem Professor ihren Ungehorsam zu verbergen und vermieden zu größerer Sicherheit alle Häuser, in denen sie ihn treffen konnten. Als aber dann mein Zustand sich verschlimmerte, entschloß man sich, mich Cottards Vorschriften buchstäblich befolgen zu lassen. Nach drei Tagen war ich Erstickungsanfälle und Husten los und atmete gut. Da verstanden wir: Cottard hatte, so sehr er mich, wie er später sagte, asthmatisch und vor allem »verdreht« fand, wohl erkannt, daß zur Zeit Intoxikation mein vorherrschendes Leiden sei und daß er durch Filtern meiner Leber und Durchspülen der Nieren meine Bronchien von der Kongestion befreien und Atem, Schlaf und Kräfte mir wiedergeben werde. Und wir begriffen, daß dieser Einfaltspinsel ein großer Kliniker war. Endlich konnte ich aufstehen. Aber man sprach davon, mich nicht mehr in die Champs-Élysées zu schicken. Wegen der schlechten Luft, sagte man; ich konnte mir wohl denken, daß man den Vorwand benutzte, damit ich nicht mehr Fräulein Swann sähe, und ich zwang mich, mir die ganze Zeit den Namen Gilberte vorzusagen, wie gefangene Besiegte sich bemühen, die Muttersprache beizubehalten, um die Heimat, die sie nicht wiedersehen werden, nicht zu vergessen. Bisweilen fuhr mir die Mutter mit der Hand über die Stirn und sagte:

      »Die kleinen Jungen erzählen also der Mama nicht mehr ihren Kummer?«

      Françoise kam täglich an mich heran und sagte: »Der junge Herr sieht aber aus –! Sie müßten sich einmal selbst ansehen: wie ein Toter!« Allerdings, wenn ich auch nur einen einfachen Schnupfen gehabt hätte, Françoise würde denselben Trauerton angeschlagen haben. Das hing mehr mit ihrem ›Stand‹ als mit meinem Befinden zusammen. Damals konnte ich nicht unterscheiden, ob dieser Pessimismus bei Françoise schmerzlich oder voller Genugtuung sei. Ich kam zu dem vorläufigen Schluß, er sei sozial und professionell bedingt.

      Eines Tages, als die Post gekommen war, legte mir meine Mutter einen Brief auf das Bett. Zerstreut öffnete ich ihn, er konnte ja nicht die einzige Unterschrift tragen, die mich glücklich gemacht hätte, die von Gilberte, zu der ich außerhalb der Champs-Élysées keine Beziehungen hatte. Was ich da zu sehen bekam am Ende des Blattes, das mit einem silbernen Siegel gestempelt war, welches einen Ritter im Helm darstellte, unter dem sich im Bogen die Devise: Per viam rectam wand, und unter einem mit großer Handschrift geschriebenen Brief, in dem fast alle Sätze unterstrichen schienen, da der Querstrich der t nicht durch die Buchstaben selbst, sondern über sie gezogen war und so einen Strich unter dem entsprechenden Wort der oberen Linie ergab –, was ich da sah, war tatsächlich die Unterschrift von Gilberte. Aber weil ich sicher war, sie sei in einem an mich gerichteten Brief unmöglich, machte mir dieser Anblick, den kein Glaube begleitete, keine Freude. Nur schlug er für einen Augenblick alles, was mich umgab, mit Unwirklichkeit. Schwindelerregend schnell spielte diese unwahrscheinliche Unterschrift mit meinem Bett, dem Kamin, der Wand ›Verwechselt das Bäumelein.‹ Alles sah ich wie einer, der vom Pferde fällt, wanken, und ich fragte mich, ob es nicht ein Dasein gebe, das ganz verschieden von dem, das ich kannte, in Widerspruch zu ihm sei, dabei aber das wahre, das mir nun einmal gezeigt wurde und mich so zaudern ließ, wie die Bildhauer des Jüngsten Gerichtes es an den Toten gezeigt haben, die auferweckt, an der Schwelle der anderen Welt sich finden. »Mein lieber Freund,« sagte der Brief, »ich höre, daß Sie sehr leidend gewesen sind und nicht mehr in die Champs-Élysées kommen. Ich gehe auch gar nicht mehr hin, weil es enorm viel Kranke gibt. Aber meine Freunde kommen alle Montag und Freitag zu mir zum Tee. Mama beauftragt mich, Ihnen zu sagen, Sie würden uns ein großes Vergnügen machen, wenn Sie auch kämen, sobald Sie hergestellt sind, da könnten wir unsere hübschen Plaudereien aus den Champs-Élysées zu Hause wieder aufnehmen. Leben Sie wohl, mein lieber Freund, ich hoffe, Ihre Eltern werden Ihnen erlauben, recht oft zum Tee zu kommen, ich sende Ihnen meine besten Grüße. Gilberte.«

      Während ich die Worte las, nahm mein Nervensystem mit erstaunlicher Schnelligkeit die Nachricht auf, mir widerfahre ein großes Glück. Aber meine Seele, das heißt, ich selbst und somit schließlich der Hauptbeteiligte, wußte noch nichts davon. Das Glück, das Glück durch Gilberte, das war etwas, woran ich beständig gedacht hatte, etwas, das ganz aus Gedanken bestand, wie Lionardo von der Malerei es sagt, eine cosa mentale. Ein Blatt Papier mit Schriftzeichen bedeckt, das eignet das Denken sich nicht sofort an. Aber sobald ich den Brief ausgelesen hatte, dachte ich an ihn, er wurde ein Gegenstand der Träumerei, auch er wurde cosa mentale, und schon liebte ich ihn so sehr, daß ich ihn alle fünf Minuten wiederlesen mußte und küssen. Da erkannte ich mein Glück.

      Das Leben ist mit Wundern besät, auf welche Liebende stets hoffen können. Möglicherweise war das, welches mir geschah, künstlich von meiner Mutter hervorgerufen worden, die vielleicht, als sie sah, wie ich seit einiger Zeit allen Lebensmut verlor, Gilberte hatte bitten lassen, mir zu schreiben; so steckte sie ehemals zur Zeit meiner ersten Seebäder, um mir Lust zum Tauchen zu machen, das mir greulich war, weil es mir den Atem raubte, meinem Badewärter heimlich herrliche Muschelkästchen und Korallenäste zu, die ich dann auf dem Grunde selbst zu finden glaubte. Übrigens ist es in allen Ereignissen, die sich im Leben mit seinen einander widersprechenden Situationen auf Liebe beziehen, am besten, man versucht nicht zu verstehen, denn das Unerbittliche, Unverhoffte, das sie an sich haben, scheint mehr von magischen als vernunftgemäßen Gesetzen regiert. Wenn ein Multimillionär, der trotz seines Reichtums als Mensch reizend ist, von einer armen und reizlosen Frau, mit der er lebt, den Abschied bekommt und nun in seiner Verzweiflung alle Mächte des Geldes zu Hilfe ruft und allen Einfluß, den es auf Erden gibt, spielen läßt, ohne daß sie ihn wieder aufnimmt, so tut er besser daran, angesichts des unbezwinglichen Eigensinns seiner Geliebten anzunehmen, das Geschick drücke ihn nieder und wolle ihn an einer Herzkrankheit sterben lassen, als eine logische Erklärung zu suchen. Die Hindernisse, gegen die Liebhaber zu kämpfen haben und die ihre vom Schmerz überreizte Phantasie vergeblich zu erraten versucht, nisten bisweilen in irgendeiner Eigenart der Frau, die sie nicht wieder an sich ziehen können, in ihrer Dummheit, in dem Einfluß, den Leute, die der Liebende nicht kennt, auf sie gewonnen, und der Furcht, die sie ihr beigebracht haben, in der besondern Art Lust, die sie zur Zeit gerade vom Leben verlangt und die weder der Liebhaber selbst noch sein Vermögen ihr bieten können. Jedenfalls steht der Liebende nicht an der richtigen Stelle, um das Wesen der Hindernisse zu erkennen, welche die List der Frau ihm verbirgt und die genau abzuschätzen sein eigenes von Liebe gefälschtes Urteil ihn hemmt. Diese Hindernisse gleichen Geschwulsten, die der Arzt schließlich zum Zurückgehen bringt, ohne dabei ihren Ursprung festzustellen. Sie bleiben geheimnisvoll, sind aber von beschränkter Zeitdauer. Nur währen sie meistens länger als die Liebe. Und da das keine uneigennützige Leidenschaft ist, so sucht der Liebhaber, der nicht mehr liebt, auch nicht herauszubekommen, warum die arme, leichtsinnige Frau, die er liebte, lange Jahre hindurch hartnäckig sich dagegen gesträubt hat, weiter von ihm ausgehalten zu werden.

      Dasselbe Geheimnis, das oft den Augen die Ursache der Katastrophen, bei denen es sich um Liebe handelt, entzieht, umgibt ebenso häufig die Plötzlichkeit gewisser glücklicher Lösungen (wie etwa der, die mir Gilbertes Brief brachte). Glückliche Lösungen, oder wenigstens scheinbar glückliche, denn es gibt keine, die es wirklich sind, wenn es sich um ein Gefühl von der Art handelt, bei dem jede Befriedigung im allgemeinen nur die Stätte des Schmerzes ändert. Doch wird bisweilen eine Art Waffenstillstand gewährt, und man hat eine Zeitlang den Wahn, geheilt zu sein.

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