Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel Proust
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Название: Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen

Автор: Marcel Proust

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788027208821

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СКАЧАТЬ konnte bald nichts mehr denken und nichts mehr erinnern, war nur noch ein Spielzeug der billigsten Reflexe und gelangte schließlich in die Zone, wo es nach dem Parfüm von Frau Swann roch. Schon glaubte ich den majestätischen Schokoladenkuchen zu sehen, den rings im Kreis Petits fours auf Tellern umgaben und kleine Damastservietten, wie die Etikette sie vorschrieb (ihr graues Muster war eine Spezialität der Swann). Aber das Erscheinen dieser unwandelbaren, geregelten Zusammenstellung schien, wie der Kausalablauf Kants, von einem höchsten Akt der Freiheit abzuhängen. Denn, wenn wir alle in Gilbertes kleinem Salon versammelt waren, sah sie mit einmal auf die Uhr und sagte:

      »Wißt ihr, mein Frühstück ist nachgerade etwas lange her, ich diniere erst um acht, ich hätte große Lust, etwas zu essen. Was meint ihr dazu?«

      Und sie ließ uns in das Eßzimmer eintreten, in dem es finster war wie im Innern eines von Rembrandt gemalten asiatischen Tempels. Ein architektonischer Kuchen (anheimelnd und gediegen, aber doch imposant sah er aus) thronte dort scheinbar sowieso, als wäre ein ganz gewöhnlicher Tag, für den Fall, daß Gilberte die Laune ankäme, ihn seiner schokoladenen Zinnen zu entkrönen und seine Wälle mit den falben, steilen Abhängen, die im glühenden Ofen gebrannt waren wie die Bastionen vom Palast des Darius, niederzulegen. Wenn sie an die Zerstörung des ninivitischen Backwerks ging, zog Gilberte nicht nur ihren eigenen Hunger zu Rate; sie erkundigte sich auch nach meinem und brach für mich aus dem einstürzenden Monument ein Mauerstück heraus, im orientalischen Geschmack glasiert und ausgelegt mit scharlachroten Früchten. Sie fragte mich sogar, zu welcher Stunde meine Eltern speisten, als ob ich das noch wüßte, als ob der Trubel, der mich beherrschte, das Gefühl von Appetitlosigkeit oder Hunger, den Begriff des Diners oder das Bild der Familie in meinem leeren Gedächtnis, dem paralysierten Magen hätte fortbestehen lassen. Zum Unglück war diese Paralyse nicht von Dauer. Aß ich jetzt von den Kuchen, ohne es gewahr zu werden, der Augenblick mußte kommen, wo sie verdaut sein wollten. Aber noch war er weit. Inzwischen machte Gilberte mir ›meinen Tee‹. Ich trank unendlich viel davon, während doch sonst eine einzige Tasse mir auf vierundzwanzig Stunden den Schlaf raubte. Meine Mutter sagte schon ganz gewohnheitsmäßig: »Zu ärgerlich, so oft das Kind zu den Swann geht, kommt es krank zurück.« Aber wußte ich denn, wenn ich bei den Swann war, daß es Tee war, was ich trank? Und hätte ich es auch gewußt, ich hätte doch getrunken, denn angenommen selbst, mir wäre einen Augenblick der Sinn für das Gegenwärtige wieder zugefallen, Erinnerung an Vergangenheit, Voraussicht auf die Zukunft hätte mir das nicht gegeben. Meine Phantasie war nicht imstande, bis in die entfernten Zeiten zu dringen, in denen mir der Gedanke, mich niederzulegen und das Bedürfnis nach Schlaf kommen könnten.

      Gilbertes Freundinnen waren nicht alle in solch willenloses Trunkensein versunken. Einige wiesen den Tee zurück. Dann gebrauchte Gilberte eine Wendung, die damals sehr verbreitet war: »Entschieden habe ich kein Glück mit meinem Tee!« Und um noch mehr jeden Gedanken an Feierlichkeit zu beseitigen, brachte sie die Stühle rings um den Tisch in Unordnung und meinte: »Wir sehen ja aus wie eine Hochzeitsgesellschaft; mein Gott, die Dienstboten sind doch zu dumm.«

      Sie knabberte, seitwärts auf einem xförmigen schrägstehenden Stuhl sitzend. Es war, als könne sie soviel Petits fours haben, wie sie wolle, ohne ihre Mutter um Erlaubnis bitten zu müssen, und wenn Frau Swann, deren ›Jour‹ gewöhnlich mit Gilbertes Vespergesellschaften zusammenfiel, gerade einen Besuch hinausbegleitet hatte und dann einen Augenblick eilig eintrat, bald in blauen Samt, bald in eine schwarze Satinrobe mit weißen Spitzen gekleidet, sagte sie mit verwunderter Miene:

      »Das sieht gut aus, was ihr da eßt; ich bekomme Hunger, wenn ich euch Cake essen sehe.«

      »Wir laden dich ein, Mama«, sagte Gilberte dann.

      »Aber nicht doch, mein Schatz, was würde mein Besuch sagen? Ich habe noch Frau Trombert da, Frau Cottard und Frau Bontemps, du weißt, unsere liebe Frau Bontemps macht keine sehr kurzen Besuche, und sie ist eben erst gekommen. Was werden all die guten Leute sagen, wenn sie mich nicht wiederkommen sehen? Wenn niemand mehr erscheint, komme ich her, mit euch zu schwatzen (das macht mir viel mehr Spaß), sobald meine Gäste erst weg sind. Ich glaube, ich habe ein wenig Ruhe verdient, ich habe fünfundvierzig Besuche gehabt, und von den fünfundvierzig haben zweiundvierzig über das Bild von Gérôme gesprochen! Aber kommen Sie doch in diesen Tagen, Ihren Tee bei Gilberte zu nehmen«, wandte sie sich jetzt an mich, »sie wird ihn machen, wie Sie ihn lieben, so wie Sie ihn in Ihrem kleinen ›Studio‹ nehmen.« Und damit war sie schon unterwegs zu ihren Besuchen. Sie hatte zu mir gesprochen, als ob das, was ich in dieser geheimnisvollen Welt suchte, etwas so Selbstverständliches sei wie meine Gewohnheiten (zum Beispiel die, Tee zu nehmen, als ob ich je welchen genommen hätte; und was das ›Studio‹ betraf, war ich mir gar nicht sicher, ob ich eines habe oder nicht). »Wann kommen Sie? Morgen? Man wird Ihnen Toasts machen so gut wie bei Colombin. Nein? Sie sind gräßlich!«

      Seit sie einen Salon hatte, nahm sie die Manieren von Frau Verdurin an, ihren schmollend despotischen Ton. Von Toasts wußte ich ebensowenig wie von Colombin; dies letzte Versprechen hatte daher meiner Verlockung nichts hinzuzufügen. Es mag seltsam erscheinen, weil der Ausdruck ganz geläufig ist und jetzt vielleicht sogar in Combray gebraucht wird; ich aber verstand im ersten Augenblick nicht, von wem Frau Swann sprach, als ich sie unsere alte »nurse« loben hörte. Ich konnte nicht englisch. Aber bald begriff ich, daß ›nurse‹ Françoise bezeichnete. In den Champs-Élysées hatte ich solche Angst gehabt, Françoise könne einen peinlichen Eindruck machen, und nun erfuhr ich von Frau Swann, daß alles, was Gilberte von meiner ›nurse‹ erzählte, ihr und dem Gatten Sympathie für mich eingeflößt habe. »Man merkt, sie ist Ihnen ergeben, sie ist ausgezeichnet.« (Alsbald änderte ich meine Meinung über Françoise gänzlich. Eine Erzieherin in Regenmantel und Federhut zu haben, schien mir nun nicht mehr so nötig.) Schließlich entnahm ich ein paar Worten, die Frau Swann sich über Frau Blatin entschlüpfen ließ – sie erkannte ihre wohlwollende Gesinnung an, fürchtete aber ihre Besuche –, daß persönliche Beziehungen zu dieser Dame mir nicht so nützlich hätten werden können, wie ich geglaubt, und bei den Swann mein Ansehen durchaus nicht erhöht hätten.

      Hatte ich schon begonnen, zitternd vor Ehrfurcht und Freude, das feenhafte Gebiet zu durchforschen, das mir wider Erwarten seine bisher verschlossenen Zugänge öffnete, so tat ich dies doch nur als Freund Gilbertes. Das Königreich, in dem ich empfangen wurde, lag aber selbst in einem noch geheimnisvolleren, in welchem Swann und seine Frau ihr übernatürliches Leben führten; dahin richteten sie ihre Schritte, nachdem sie mir die Hand gedrückt, wenn sie zu gleicher Zeit mit mir in entgegengesetzter Richtung das Vorzimmer durchquerten. Bald aber drang ich auch ins Herz des Heiligtums vor. Zum Beispiel, wenn Gilberte nicht da war und Herr oder Frau Swann sich im Hause befanden. Sie hatten gefragt, wer geläutet habe, und als sie erfuhren, ich sei es, mich bitten lassen, ein wenig zu ihnen zu kommen; sie wünschten, daß ich in diesem oder jenem Sinne, zu einem oder dem andern Zweck meinen Einfluß auf ihre Tochter ausübe. Da dachte ich an den beredten, ausführlichen Brief, den ich unlängst an Swann geschrieben, auf den er nicht zu antworten geruht hatte; und es erschien mir wunderbar, wie sehr Geist, Urteilskraft und Herz unfähig sind, die geringste Umstimmung zu vollziehen, eine einzige der Schwierigkeiten zu beheben, die dann das Leben, ohne daß man auch nur merkt, wie es das anstellt, so leicht auflöst. Meine neue Stellung als Freund Gilbertes, begabt mit einem ausgezeichneten Einfluß auf sie, ließ mich jetzt Vergünstigungen genießen, als hätte ich in einem Gymnasium, in dem ich immer der erste wäre, einen Königssohn zum Kameraden und verdankte diesem Zufall intimen Zutritt zum Palast und Audienzen im Thronsaal. Mit unendlichem Wohlwollen, als wäre er nicht überhäuft mit glorreichen Beschäftigungen, ließ mich Swann in seine Bibliothek eintreten und dort eine Stunde lang, stammelnd und schweigsam vor Schüchternheit, dann wieder einmal Mut in einem Anlauf fassend, auf Wendungen antworten, von denen ich in meiner Aufregung kein Wort verstand; er zeigte mir Kunstgegenstände und Bücher, die, wie er annahm, mich interessieren könnten, und ich war von vornherein sicher, daß sie an Schönheit alles überträfen, was der Louvre und die Nationalbibliothek besitzen; sie anzusehen aber war ich nicht imstande. In solchen Augenblicken hätte mir sein Butler geradezu eine Freude mit der Aufforderung bereitet, ihm meine Uhr, meine Krawattennadel СКАЧАТЬ