Название: Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen
Автор: Marcel Proust
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027208821
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Seit einiger Zeit wurde in manchen Familien das Wort »Champs-Élysées«, wenn ein Besucher es aussprach, von den Müttern mit der mißgünstigen Miene beantwortet, die man für einen Arzt von Ruf in Bereitschaft hält, der angeblich in seinen Diagnosen zu oft geirrt hat, um noch Vertrauen zu verdienen; man versicherte, dieser Park bekäme den Kindern nicht gut, mehr als ein Fall von Halsweh oder Masern und zahlreiche Fieberanfälle ließen sich aufzählen, an denen er schuld sei. Ohne an der zärtlichen Fürsorge meiner Mutter, die mich immer noch hinschickte, offen zu zweifeln, beklagten Freundinnen von ihr, wie unbelehrbar sie sei.
Nervenleidende sind vielleicht der landläufigen Meinung zum Trotze diejenigen, die am wenigsten »auf sich achtgeben«; sie nehmen vieles an sich wahr, was sie unnötig aufregt, wie sie nachträglich feststellen, und beachten dann schließlich kein Symptom mehr. Allzu oft hat ihr Nervensystem Alarm geschlagen, wie bei einer schweren Krankheit, wenn einfach nur ein Schneefall drohte oder ein Umzug bevorstand, und so gewöhnen sie sich schließlich daran, nicht mehr auf solche Warnungen zu achten als ein Soldat, der sie im Eifer des Kampfes kaum wahrnimmt und sterbenskrank doch noch auf einige Tage das Leben eines kerngesunden Menschen weiterführen will. Eines Morgens regten sich in mir die gewohnten Beschwerden alle auf einmal, von deren beständiger Zirkulation in meinem Innern mein Bewußtsein sich immer wegwandte wie etwa von der Zirkulation des Blutes. In diesem Zustand lief ich munter ins Eßzimmer, wo meine Eltern schon bei Tische saßen; ich sagte mir wie gewöhnlich, Frieren bedeute nicht, daß man sich wärmen müsse, sondern zum Beispiel, daß man gescholten worden sei, und keinen Hunger haben, daß es regnen werde, und nicht, man dürfe nicht essen; ich setzte mich zu Tisch: da hielt mich, als ich gerade den ersten Bissen eines verlockenden Koteletts hinunterschlucken wollte, Übelkeit und ein Schwindel zurück, der fieberige Protest einer beginnenden Krankheit, deren Symptome meine Gleichgültigkeit bisher maskiert hatte. Jetzt verweigerte der Körper eigensinnig die Nahrung, ich konnte nichts hinunterbringen. In derselben Sekunde gab mir, wie der Selbsterhaltungstrieb dem Verwundeten, der Gedanke, man werde mich nicht ausgehen lassen, wenn man merke, daß ich krank sei, die Kraft, mich bis in mein Zimmer zu schleppen und dann, nachdem ich vierzig Grad Fieber dort festgestellt, mich fertig zu machen zum Ausgang in die Champs-Élysées. Und mitten durch die Hülle des entkräfteten, nachgebenden Körpers strebte ein selig lächelnder Gedanke begehrlich der süßen Lust zu, mit Gilberte zusammen Barlauf zu spielen, und dazu hatte ich, der eine Stunde später sich kaum aufrecht hielt, aber glücklich an ihrer Seite war, noch die Kraft.
Zu Hause erklärte Françoise, ich habe mich »unwohl befunden«, müsse mir »einen hitzigen Frost geholt« haben, und der Arzt, den man sofort rief, erklärte, der »scharfe, heftige« Fieberschauer, der meine Atemstockung begleitete, sei ihm »sympathischer« als »verlarvte«, verfänglichere Krankheitsformen, neben denen meine Beschwerden nur ein »Strohfeuer« seien. Seit langem zeigten sich bei mir Erstickungsanfälle; trotz der Mißbilligung meiner Großmutter, die mich schon als Alkoholiker sterben sah, hatte unser Arzt mir geraten, außer dem Kaffein, das mir zur Erleichterung der Atmung verschrieben war, Bier, Champagner oder Kognak zu nehmen, wenn ich eine Krise herannahen fühle. Solche Krisen würden dann in der vom Alkohol hervorgerufenen »Euphorie« aussetzen. Damit die Großmutter erlaubte, daß man mir Alkohol gab, war ich häufig gezwungen, meinen Beklemmungszustand nicht zu verheimlichen, ja, fast ihn zur Schau zu tragen. Übrigens war ich, wenn ich ihn kommen fühlte, in meiner Unsicherheit, welche Proportionen er annehmen werde, immer in Unruhe, die Großmutter könne traurig werden; das fürchtete ich mehr als meine Schmerzen. Zugleich aber zwang mich mein Körper, – zu schwach, das Geheimnis meiner Schmerzen für sich zu behalten, oder aus Furcht, man werde übersehen, was mir drohte, und mich zu einer Anstrengung zwingen, die ihm unmöglich oder gefährlich würde – die Großmutter auf mein Unwohlsein aufmerksam zu machen, und zwar mit einer Genauigkeit, in die ich schließlich eine Art physiologischer Gewissenhaftigkeit setzte. Bemerkte ich in mir ein lästiges Symptom, das ich bisher noch nicht herausgehoben hatte, war mein Körper so lange in Angstbeklemmung, bis ich es der Großmutter mitteilen konnte. Stellte sie sich ganz unaufmerksam, so verlangte er von mir, daß ich nicht nachließ. Bisweilen ging ich zu weit; und auf dem geliebten Gesicht, das seine Erregungen nicht mehr immer so bemeistern konnte wie früher, erschien ein Ausdruck von Mitleid, den Schmerz verzerrte. Dann folterte der Anblick ihrer Qual mein Herz; und als müßten meine Küsse diese Qual austilgen, als könnte meine Zärtlichkeit der Großmutter soviel Freude geben wie mein Glück, warf ich mich in ihre Arme. Und da nun auch meine Skrupel besänftigt waren durch das sichere Gefühl, die Großmutter wisse um meine Beschwerden, hatte auch mein Körper nichts dawider, daß ich sie beruhigte. Ich beteuerte, daß die Beschwerden nicht schlimm, daß ich durchaus nicht zu beklagen und ganz glücklich sei, dessen könne sie sicher sein, mein Körper habe genau so viel Mitleid erhalten wollen als er verdiene, und wenn man nur wisse, daß er auf seiner rechten Seite einen Schmerz empfinde, sei er damit einverstanden, daß ich erkläre, dieser Schmerz sei keine eigentliche Krankheit, kein Glückshindernis; mein Körper bestehe nicht darauf, Philosoph zu sein; das sei nicht sein Ressort. Fast täglich hatte ich während meiner Rekonvaleszenz Erstickungsanfälle. Eines Abends war ich, als die Großmutter mich verließ, ganz wohlauf. Zu später Stunde kam sie noch einmal auf mein Zimmer und bemerkte meine Atemnot. »Ach mein Gott!« rief sie, »wie du leidest!« Sie sah ganz bestürzt aus. Gleich verließ sie mich, ich hörte das Haustor zufallen, und etwas später kam sie mit Kognak wieder, den sie gekauft hatte, weil im Hause keiner war. Bald fing ich an, mich wohlzufühlen. Die Großmutter sah etwas erhitzt und verlegen aus, in ihren Augen lag Ermattung und Entmutigung.
»Ich will dich jetzt lieber allein lassen, du sollst dir die Besserung zunutze machen«, sagte sie und wollte rasch fort. Doch küßte ich sie noch und fühlte dabei auf den frischen Wangen etwas Nasses; ob das die Feuchtigkeit der Nachtluft war, durch die sie gegangen, wußte ich nicht. Am nächsten Tag kam sie erst abends in mein Zimmer, weil sie hatte ausgehen müssen, wie man mir sagte. Ich sah darin ein Zeichen von Gleichgültigkeit und mußte mich zusammennehmen, ihr keinen Vorwurf zu machen.
Da meine Atembeschwerden anhielten, als die Kongestion schon lange vorbei war und sie nicht mehr erklärlich machte, konsultierten meine Eltern Professor Cottard. Ein Arzt, der in derartigen Fällen zugezogen wird, muß nicht nur kenntnisreich sein: angesichts von Symptomen, die auf drei oder vier verschiedene Krankheiten hindeuten, entscheidet schließlich und endlich seine Witterung, sein Scharfblick, mit welcher er es bei annähernd gleichen Anzeichen vermutlich zu tun hat. Diese geheimnisvolle Gabe setzt keine Überlegenheit auf andern geistigen Gebieten voraus, es kann sie ein äußerst gewöhnliches Wesen, das die schlechteste Malerei, die schlechteste Musik liebt und keinerlei Wißbegier hat, in höchstem Maße besitzen. Was in meinem Fall sinnfällig zu beobachten war, konnte ebensogut durch nervöse Spasmen verursacht sein wie durch eine beginnende Tuberkulose, durch Asthma wie durch Engbrüstigkeit infolge von Intoxikation in Verbindung mit Nierenschwäche, durch eine chronische Bronchitis oder einen Komplex, der mehrere dieser Faktoren enthielt. Nun wollten die nervösen Spasmen mit Schroffheit, die Tuberkulose mit großer Sorgfalt und einer Mastkur behandelt sein, die für eine gichtige Veranlagung oder das Asthma schlecht gewesen wäre und geradezu gefährlich werden konnte im Fall einer Engbrüstigkeit Intoxikation, die ein Regime erforderte, das wiederum für einen Tuberkulösen unheilvoll werden konnte. Cottard aber hielt sich nicht lange bei Bedenken auf und gab gebieterische Vorschriften. »Heftige, schnellwirkende Abführmittel, mehrere Tage hindurch Milch, nichts als Milch, kein Fleisch, keinen Alkohol.« – Meine Mutter murrte, ich habe doch eine Kräftigung sehr nötig, sei schon nervös genug, diese Pferdekur und diese Diät würden mich ganz herunterbringen. Cottards Augen, die unruhig wurden, als fürchte er etwa, den Zug zu versäumen, konnte ich ansehen, daß er sich fragte, ob er seiner natürlichen Gutmütigkeit nicht zu sehr nachgegeben СКАЧАТЬ