Название: Gesammelte Werke
Автор: Isolde Kurz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962812515
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Da seid ihr ja, dachte befriedigt der Wanderer, denn es schien ihm in diesem Augenblick fast, als ob er der Teppiche wegen gekommen sei. Denn Figurenteppiche waren seine Leidenschaft, er zog sie der Malerei bei weitem vor, und er pflegte zu versichern, dass das größte Meistergemälde sich nicht an ergreifender Ausdruckskraft mit der steifen Ungeschicklichkeit so eines gewebten Teppichbildes vergleichen könne. Sie taten eine ähnliche Wirkung auf ihn wie die Marionetten, die ihn auch in tiefere Entzückung versetzen konnten als die größte Darbietung dramatischer Kunst. Denn die Puppen, sagte er, das seien die wahren Künstler, sie stellten nicht das Einmalige dar, sondern das Absolute, die ewige Idee. Alles Leid der Erde sei in so einem Kasperl beisammen, wenn er hilflos an der Wand lehne und nur die Hand noch leise bewege, überwältigt von Schmerz. Dann sei es schwer, sich der Tränen zu enthalten. So gehe es ihm auch mit der frühen, noch einfältigen Teppichschilderei, denn je ferner der Wirklichkeit, je näher der Vorstellung, die das wahre Leben sei.
Hier an der abgelegensten Stelle des Casentino, in einem Raum, den seit lange nur Spinnen und Asseln bewohnten, fand er seiner Liebhaberei eine Befriedigung, deren Fülle ihm fast den Atem nahm. Bleiben! sagte eine Stimme in ihm, dieselbe, die ihm geboten hatte zu kommen. Die Teppiche an der dem Eingang gegenüberliegenden Nordwand zogen ihn besonders an, sie schienen die ältesten zu sein, ihre Farben waren teilweise verblasst, auch hatten die Motten da und dort an ihnen gearbeitet, aber alle entstammten sie einer schöpferischen Fantasie und edler, zielsicherer Kunstgesinnung. Da gibt es Frauen in Prunkgewändern, gewappnete Ritter, belagerte Festungen, rennende Rosse und gefällte Lanzen, Liebesgärten mit jungen Paaren; ganze Zeiträume voll wilder und zärtlicher Begebnisse, Geschichte oder Legende, sind auf dieser Wand beisammen. Wo der Raum nicht ausgefüllt ist, schieben sich Schmalstücke mit florealen Darstellungen, sogenannte »Verdüren«, ein. Minder fesselt ihn die gegenüberliegende südliche, die mehrfach von Türen unterbrochen ist. Ihre Teppiche sind bei weitem besser erhalten, weil sie nicht aus Wolle, sondern aus Seide gewirkt und mit Goldfäden durchzogen sind, aber an Kunstwert erscheinen sie dem empfindlichen Auge beim flüchtigen Überblick geringer, weil die lebhaft bewegten Gruppen von augenscheinlich historischem Inhalt stark und anspruchsvoll aus der Wand heraustreten. Einem Kind mochte wohl dabei das Fürchten kommen.
Der Betrachter wendet sich wieder zu der ersten Wand zurück, deren Farben sich jetzt in der Abendglut mehr und mehr entzünden, dass auch hier die Formen plastischer herauskommen und die ganze Fläche ein bewegteres, aber nicht unruhiges Leben empfängt. Da und dort rührt ein dargestellter Gegenstand an einen Winkel seiner Erinnerung, wo er den Schlüssel dazu vermutet, ohne ihn sogleich zu finden; die letzte Gruppe ausgenommen, deren Bedeutung nicht zu verkennen ist. Auf die Frage, ob man wisse, was die anderen Bilder darstellten, schüttelt der Führer den Kopf. Er kennt ja die Teppiche von klein auf, denn er ist auf dem Gut geboren, wo sein Vater vordem den gleichen Posten innegehabt, und er hat sie von je missachtet gesehen, ja, er hat sich in früherer Zeit, als noch die alte Herrschaft ab und zu auf der Villa wohnte, in ihre Seele hinein geschämt, dass man nicht daran dachte, die alten verstaubten Lappen wegzunehmen und sie durch eine lustige bunte Papiertapete zu ersetzen, die dem Raum nach seiner Meinung viel besser angestanden hätte. Aber die Bewunderung des Fremden machte ihn nun doch an seinem Kunstgeschmack irre, und da er sah, dass dieser wie gebannt unter den Teppichen verweilte, bald den einen, bald den anderen vor- und zurücktretend aufs genaueste musterte und sich offenbar gar nicht davon trennen konnte, bot er ihm nun selber die Vergünstigung an, die Nacht hier oben zu verbringen. Er wolle ihm eine Lagerstatt im Teppichsaal aufschlagen, auch Tisch und Stuhl und sonst das Notwendigste hineinstellen, damit der Gast bleiben und sein Herz am Anblick der wunderlichen Dinger sättigen könne.
Er setzte sich auch gleich in Bewegung und schaffte mit seiner Enkelin, einem sehr kleinen vierzehnjährigen Mädchen, das über dem Erscheinen des Fremden die Sprache verloren hatte und auf keine seiner Fragen Antwort gab, aber desto eifriger war ihm zu dienen, aus den verschiedenen Rumpelkammern mehr Gegenstände herbei, als der genügsame Wanderer bedurfte, ließ es sich auch nicht nehmen, die Liegestatt aus seinem eigenen zwar groben aber blütenweißen Wäschebestand zu überziehen. Nur eins bereitete ihm Sorge, der Mangel an Beleuchtung.
Wir haben kein elektrisches Licht hier oben, in der Herrschaftswohnung sind wohl Petroleumlampen, aber kein Petroleum, ich selber behelfe mich mit einem altmodischen Öllämpchen und kann dem Herrn nichts anbieten als ein ebensolches.
Dies sagend stellte er eine der hohen toskanischen Messinglampen, ein blitzblank gleißendes Ding mit zierlichen Kettchen, woran Putzschere und Verschlussdeckel hingen, auf den Tisch. Aber die Bimba, wie die Kleine genannt wird, springt leichtfüßig weg und bringt auf der abgebrochenen Spitze eines alten Kandelabers den Stumpen einer armdicken Wachskerze. Auch ein Glas und zwei Karaffen, die eine mit Wasser, die andere mit Wein, holt das eifrige Kind von selbst herbei, wofür sie vom Großvater belobt wird, der kein Ende findet mit Entschuldigungen, dass er einem solchen Herrn nichts Besseres zu bieten habe, und nicht ruht, bis dieser wenigstens seinem Wein die Ehre angetan hat.
Endlich allein gelassen, beginnt der Gast seine Musterung. Der Himmel bleibt nach Sonnenuntergang hoch und hell, kaum dass ein Stern mit noch blassem Schein hindurchdringt; so sind die Teppichschildereien noch wie am Tage kenntlich. In der linken Ecke beginnt er seine Forschung, vermeinend sie der Reihe nach wie eine Schrift entziffern zu können. Was werden die stummen Münder ihm sagen?
Der erste Teppich dürfte der älteste sein, die Farben sind am schlechtesten erhalten, und die Stilart weist am weitesten zurück. Da sieht man eine mittelalterliche Stadtmauer, durch vortretende Wehrtürme verstärkt, ein Tor von gezackten Zinnen gekrönt, und hoch oben zwischen den Zinnen, deren eine niedergelegt ist, steht eine schlanke Mädchengestalt in reichen Gewändern mit kleidsamem Kopfputz. Sie hat beide Hände auf die Brust gelegt und spricht zu einem Ritter, der sich außen in fast gleicher Höhe ihr gegenüber befindet. Auch er legt eine Hand СКАЧАТЬ