Название: Gesammelte Werke
Автор: Isolde Kurz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962812515
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Angelas Erscheinen machte dieser beiderseitigen Verzehrung ein Ende, denn nun klammerte sich die Sterbende mit ihrer letzten Lebenshoffnung an sie. Dadurch gewann ich die Möglichkeit, den unglücklichen Mann zu langen Gängen wegzuholen, die ihm wohl taten, denn er hatte bis dahin den ganzen Tag in der Nähe der Kranken oder, wenn sie schlief, am Schreibtisch verbracht und sah jammernswürdig aus. Das aber war das einzige, was ich für ihn tun konnte. Das Wort, worauf er hoffte, das er mir so oft forschend aus den Augen zu lesen suchte, das Wort: Gelungen! Dein Werk ist gelungen! konnte ich nicht sprechen. Täglich nahm ich mir vor, mit ihm zu reden, und täglich verschob ich es angesichts der zunehmenden Verschlechterung im Befinden der Kranken und des Schweren, was ihm da bevorstand. Zuweilen schloss sich Ruhland als Dritter an, und ich war ihm dankbar, wenn er durch seine Dazwischenkunft den Verschub der Aussprache rechtfertigte. Öfter aber blieb dieser bei der Kranken zurück, die ihn gleichfalls Gulbert nannte und ihm in Angelas Gegenwart zärtliche Dinge sagte; vielleicht war er ihr seinerzeit doch nicht so gleichgültig gewesen, wie sie sich damals den Anschein gab. Ja, der Name Gulbert musste ihr unbewusst aus Gustav und Albert, wie jener mit dem Vornamen hieß, zusammengeronnen sein. Sie machte jetzt aus keiner Regung mehr ein Hehl und nannte alle Du, als würde vor der Nähe des Todes die ganze menschliche Komödie zunichte.
Als es dem Ende zuging, kam eine Unruhe und Wanderlust über sie, dass ihr Freund Ruhland ihr die schönsten Reisepläne entwerfen musste. Sie lag unter ihrem Glasdach und sah unersättlich dem Spiel der Möwen zu, die zu Hunderten über dem blauen Spiegel auf und nieder schwebten, oder hing mit den Augen sehnsüchtig an den wunderbaren Linien der Savoyer Alpen drüben überm Wasser, deren herbstliche Hänge mit rot und golddurchwirkten Wäldern wie mit kostbaren Perserteppichen glühten und sich rötlich im Wasser spiegelten.
»Ach«, seufzte sie, »wer da oben stünde und den Fuß mit Götterschritten von Gipfel zu Gipfel setzen könnte. Wer genießt nur all die Herrlichkeit, wenn dem Menschen keine Flügelschuhe gegeben sind?«
So kam der letzte Sonnenuntergang, den wir mit ihr erlebten. Über dem niederen blauschwarzen Höhenzug des Jura lag eine Schicht von roten Feuerwolken, die nach oben in glühendes Rotgelb übergingen und allmählich, immer leichter und zarter werdend, mit dem abendlichen Himmel verschwammen. Das Wasser brannte weithin im Widerschein der Glorie, und als seltsame Lichterscheinung standen darüber drei hohe Feuersäulen im Westen, während der südliche Teil des Sees mit den Savoyer und Walliser Bergen schon wie erstarrt unter einer blassen Mondsichel ruhte, die eine zitternde Brücke über den Spiegel schwang.
Selma konnte sich trotz ihrer Schwäche an dem seenhaften Anblick nicht sättigen. Zuletzt ging die Beleuchtung in ein tiefes Violett von unsagbarer Erhabenheit über, als stiege ein stummes Requiem aus dem Wasser auf. Et lux aerterna luceat eis, sang es aus der schwärzlichen Tiefe. Aber die scheidende Seele gehörte noch der Erde an. Denn jetzt kam durch die Flut, die einer dunklen gediegenen Metallplatte glich, das Dampfschiff mit seinen roten, weißen und grünen Lichtern wie ein schwimmendes Zauberschloss heran, vom Wasser zurückgespiegelt, und die Kranke fuhr in ihren Polstern empor.
Das Glücksschiff! rief sie. Endlich kommt es! Endlich bringt es Ihn!
Gleich darauf ging die Klingel, Ruhland erschien, und als er sich niederbeugte, um ihre Hand zu küssen, warf sie mit einer Plötzlichkeit, die an ihre größten Augenblicke auf der Bühne erinnerte, beide Arme um seinen Hals und jubelte mit fliegendem Atem: Gulbert! Gulbert!
Der Ankömmling wollte sich mit einem bestürzten Blick auf Gustav der Umklammerung entziehen, aber dieser winkte ihm, der Kranken zu willfahren, und entglitt leise in die Dämmerung. Wer kann ermessen, was es den stolzen Mann kostete, die Seele zu sehen, die demütig nur für ihn gelebt hatte und die sich jetzt im Sterben seiner reuigen Liebe entzog! Der Freund ihrer Traumwahl kniete neben dem Ruhebett mit ihren Armen um seinen Nacken und ihrem Mund auf dem seinigen, bis ein gewaltsamer Hustenanfall dem quälenden Auftritt ein Ende machte.
In dieser Nacht entschlummerte Selma unter der Wirkung des Schlaftrunks, um nicht mehr zu erwachen. Aber sie atmete noch weiter bis zum Abend und lächelte immerzu wie im Bann des schönsten Traums. Einer ihrer letzten Wünsche war gewesen, an »Gulberts« Arm im Wald spazierenzugehen. Da hatte Angela ihr frisches Moos unter die Füße geschoben und ein Fläschchen mit Tannennadelduft über ihr Kissen ausgegossen. Daraus mochten ihr beglückende Bilder einer seligen Wanderung zu zweien durch die Lande der Jugend aufgestiegen sein.
Ihr Begräbnis enthüllte erst ganz, in wie weiten Kreisen die Tote geliebt und gefeiert war. Alle Bühnen, wo man sie in Gastrollen gekannt hatte, sandten Blumen und Kränze mit prunkvollen Schleifen und Ruhmesworten. Lange Zeitungsspalten rühmten die unvergleichliche Selma Hanusch. Von der letzten Stätte ihrer Wirksamkeit war ein eigener Vertreter erschienen und feierte die hinreißende Künstlerin, die edle, immer wohlwollende und hilfsbereite Kunstgenossin über ihrem mit Lorbeer zugeschütteten Sarg. Daneben stand der große, der schöpferische Künstler, den nicht ein Blättchen Lorbeer hatte krönen wollen; denn für einen solchen hielt und halte ich ihn noch, wenn auch Schicksal und eigene Führung ihn den Weg zur Vollendung nicht finden ließen. Unaussprechliches mochte bei der Feier in ihm vorgehen. Er redete kein Wort, und die Trauergäste verabschiedeten sich von ihm mit kurzem, stummem Händedruck.
Wir gingen alle drei früh zur Ruhe. Angela war erschöpft von der langen Pflege und den Erregungen, ich hatte alle Gänge und Besorgungen, die mit einem solchen Ereignis und gar auf fremdem Boden, zusammenhängen, übernommen und war gleichfalls todmüde. Gustav sah wie zerschlagen aus und sagte, er wolle lange und fest schlafen. So trennten wir uns.
In der Nacht im Halbschlaf hörte ich einmal die Verandatür, die in mein Zimmer führte, knarren, und es schien mir im matten Sternenschein, als beugte sich Gustavs Gesicht über mein Lager, aber ich war nicht imstande den Schlaf abzuschütteln СКАЧАТЬ