Unten verarmen Menschen – und Oben?
„Schuldigung“
Eine generelle Nebenwirkung des Kapitalismus ist das Misstrauen, das sich aus Konkurrenz und Profitgier ergibt. Sie, liebe Leserin und lieber Leser, erinnern sich an lapidar dahergesagte Entschuldigungen aus Wirtschaft und Politik wie „Es tut mir leid.“ Angesichts von nicht akzeptablen Grenzüberschreitungen von Verfassung, Wirtschaftsskandalen und Humanität sind sie völlig fehl am Platz. Ich beziehe mich dabei noch einmal auf das bereits mitgeteilte Beispiel der Entschuldigung des BND aufgrund der Bespitzelung von Journalisten in Beruf und Privatleben im Mai 2006.
Die Bürger bräuchten dringend einen „politischen Qualitätskontrollrat.“ Stattdessen werden sie von morgens bis abends und nachts staatlich kontrolliert – und durchleuchtet.
Der BND-Skandal 2006 mutet wie der personalisierte Austragungsort von Bespitzelungen an und wie ein neuerliches Bekenntnis für die Pressefreiheit, von deren Existenz man gar nichts wusste. Vor vierzig Jahren definierte das Bundesverfassungsgericht:
„Eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein Wesenselement des freiheitlichen Staates“, woraus Martin Klingst den Schluss zieht: „Pressefreiheit setzt also zweierlei voraus: dass der Staat nicht die Medien lenkt und sich niemand in den Medien vom Staat lenken lässt.“
Der BND-Skandal stellt die Pressefreiheit somit doppelt in Frage: von außen durch den skrupellosen Nachrichtendienst und von innen durch gewissenlose Journalisten, die ihre eigenen Ziele verfolgen: „Kurzum, wer zu Recht den BND ins Visier nimmt, darf verantwortungslose Medienleute nicht verschonen.“ (Martin Klingst, Mai 2006)
Das Stichwort Berufsehre verweist als nicht eingehaltenes Ethos einmal mehr auf menschliche Einfachheit, die in Anbetracht der Komplexität der politischen Wirklichkeit auch hier das einzige Mittel zur Besinnung des journalistischen Berufsvollzugs darzustellen scheint. Dieses Merkmal der Besinnung auf die Grundlagen, weniger auf die rechtlichen, als auf das existenziell im Menschen verankerte Recht- und Unrechtsbewusstsein in allen Berufsgruppen moralisch und ethisch herbeizurufen, ist generelle Aufgabe. Die Frage ist, wie viel ist den Journalisten ihre Pressefreiheit wert? Und für wie viel Euro wird sie verkauft?
In einem Bericht des NDR-Medienmagazins Zapp, Mitte Juni 2009, wurden Journalisten interviewt, die zugaben, Rabatte und Vergünstigungen von Unternehmen gern in Anspruch zu nehmen. Sie sind nicht selten mit erheblichen Einsparungen in allen möglichen Geschäftssparten, wie z.B. Fluglinien, Hotels, Automarken usw. verbunden. Das Magazin forderte zusätzlich die Offenlegung von Nebenjobs. Tom Buhrow bekam, Berichten zufolge, von Mitarbeitern des NDR die Aufforderung, „künftig auf hoch bezahlte Nebeneinkünfte ganz zu verzichten.“ (Ruhr Nachrichten, 22. Juni 2009)
Herr Gerhard Schäfer, ehemaliger Bundesrichter und beauftragter Gutachter des 180 Seiten starken Gutachtens zur BND-Affäre, empfiehlt, die „Dienstvorschriften für Überwachungsaktionen zu ändern“ und außerdem – man beachte, dass der BND seit vierzig Jahren (so) arbeitet – sollten BND-Mitarbeiter über die Pressefreiheit aufgeklärt werden. (WR, 27. Mai 2006)
BND-Chef Uhrlau entschuldigte sich für die Bespitzelungen. Das ist doch wirklich anständig, oder? Oder ist diese Form der Entschuldigung bzw. Entschuldigungsformel gar kein Anstand, sondern eher das Gegenteil, eine Frechheit und Unverfrorenheit?
Andererseits: Wenn Kinder sich auf dem Weg zur Schule beim Buskontrolleur dafür entschuldigen, dass sie ihr Schoko-Ticket zu Hause haben liegen lassen, dann wird diese Entschuldigung in der Regel von den Beamten im Öffentlichen Dienst nicht angenommen und sie erhalten ein offizielles Anschreiben mit der Aufforderung, 50 Euro zu bezahlen − obwohl der Beamte ruckzuck nachprüfen könnte, ob das Kind im Besitz eines Jahrestickets ist. Und benötigt der Bus aufgrund von Baustellen eine halbe Stunde länger zur Schule, unterstellt der Lehrer den Kindern Lügen … und sie bekommen einen Eintrag ins Klassenbuch – auch wenn sie sich für die Verspätung entschuldigt haben. Man gewinnt den Eindruck, als sollten die kleinen Bürger, Recht und Ordnung im Staate ethisch und moralisch auf hohem Niveau einhalten. Sie werden wie Erwachsene zur Rechenschaft gezogen.
„Oben“ zelebriert man „Entschuldigungszeremonien“ auf Kindergartenniveau.
Die Kontrolleure, also die selbst durch den Staat Kontrollierten, die „nur ihren Dienst nach Vorschrift“ machen, sollten reflektieren, warum sie wie handeln. Denn es darf nicht blind und undifferenziert nach Unten durchregiert werden. Will man jegliche Wertedebatte ad absurdum führen, muss man auf diesem Pfad nur weiter wandeln und handeln, wie es in der Vergangenheit schon zu oft passiert ist. Blinder Glauben und Gehorsam kann in Deutschland nicht mehr erklärtes politisches Ziel sein. Die Verkehrungen sind aufzudecken: Die Großen sollten sich erstmal ethisch-moralisch einwandfrei verhalten. Dann muss man Kinder in Deutschland nicht undifferenziert in dieser Form bürokratisch-staatlich erziehen und könnte stattdessen auch mal Entschuldigungen von Kindern annehmen. Aber das Vergessen von Schoko-Tickets ist natürlich eine gute Einnahmequelle für die Städte – da kann dann schon mal das Mitgefühl mit den Kleinen baden gehen.
Es ist schrecklich, als junger Mensch in einer Welt zu leben, in der es keine Ausnahmen, kein Mitgefühl noch Verständnis, sondern nur Gesetze gibt … Und was glauben Sie, wie diese Kinder als Erwachsene sein werden?
Öffentliche Entschuldigungen aus Politik und Wirtschaft, wie die oben zitierte, sollen wohl – pars pro toto – den guten und hehren Charakter Deutschlands unterstreichen: Hier passiert nichts Unrechtes, und wenn doch, dann wird es aufgedeckt. Man versucht den Eindruck in der Bevölkerung zu vermitteln, man hätte es mit wohlerzogenen oder zumindest erzogenen Menschen zu tun, die in der Lage sind, zwischen Recht und Unrecht zu differenzieren. Doch für eine Entschuldigung auf diesem Niveau braucht man kein Herz, keine beruflichen Fähigkeiten und kein Verantwortungsbewusstsein, also auch keine Einsicht in die weit reichenden Konsequenzen eines solchen Verhaltens.
Wer aber zu reflektiertem, moralisch-ethischen Verhalten auf hohem Niveau nicht in der Lage ist, sollte im Interesse aller Bürger nicht in solchen Positionen sitzen. Wenn die Mitarbeiter des BND erst über die Pressefreiheit und ihre Bedeutung aufgeklärt werden müssen und dies öffentlich als Grund für die Verfehlungen angegeben wird, dann ist ebenso öffentlich zu fragen, auf welchem moralisch-ethischen Stand und Wissensstand über das menschliche Wesen unsere Politiker und Unternehmer verfügen, gemäß dem sie handeln.
Davon auszugehen, die „braven“ Bürger bekämen schon den Eindruck, sie, die Obermenschen, seien anständig, schließlich entschuldigen sie sich wie wohlerzogene Sängerknaben, ist als solche schon eine moralisch-ethische Frechheit. Ob dieser Skandal Folgen haben wird, bleibt abzuwarten. Denn wie immer, wenn ein Skandal öffentlich wird, flaut das Spektakel schnell wieder ab, und die Öffentlichkeit hört kaum etwas davon, ob und wie die Verantwortlichen vor dem Gesetz zur Rechenschaft gezogen werden. Hauptsache, die dunklen Wolken verziehen sich und dann lässt man die Sonne wieder scheinen. Aber die Sonne in der Kultur scheint zunehmend weniger hell, weil aus allen Winkeln im eigenen Land, wie aus aller Welt, СКАЧАТЬ