Название: Mythos, Pathos und Ethos
Автор: Thomas Häring
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783738030754
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Mitte September 2005: "Auf die Unentschlossenen kommt es an", behauptete die SZ in ihrer letzten Ausgabe vor der Wahl und damit lag sie wohl richtig. Es wurde fleißig über mögliche Koalitionen spekuliert, doch wesentlich interessanter war eine andere Sache: Scheinbar gab es immer noch unheimlich viele Wählerinnen und Wähler, welche nicht wußten, daß die Zweitstimme die entscheidende war und das gab dann doch ziemlich zu denken. So kam es, daß Grünen-Wähler auch ihre Erststimmen dem Kandidaten der eigenen Partei gaben, welcher jedoch ohnehin keine Chance auf das Direktmandat hatte, anstatt den SPD-Kandidaten zu wählen, der mit den Stimmen der Grünen-Sympathisanten vielleicht seinen Konkurrenten von der Union überflügeln hätte können. Tja, dumm gelaufen.
In Berlin lag Spannung in der Luft, gemischt mit einer gespenstischen Ruhe. Sieben Jahre lang hatte Rot-Grün regiert gehabt, es würde wohl ziemlich lange dauern, bis so ein Bündnis wieder eine Mehrheit bekommen würde, wenn es je überhaupt noch einmal dazu kommen sollte. Alles war gesagt, nun konnte man nur noch warten, die erste Prognose würde zeigen, wohin das Pendel ausschlug. So eine Wahl war im Grunde nichts Anderes als Geschlechtsverkehr. Der Wahlkampf war das Vorspiel, die Wählerinnen und Wähler wurden angesprochen, heiß gemacht, zum Vorglühen gebracht, doch erst am Wahltag fand das Eindringen statt, nämlich dann, wenn die Stimmzettel in die Wahlurne geworfen wurden. Die Prognose stellte den ersten Höhepunkt des Wahlabends dar, manchmal reichte es da schon zum Orgasmus, ab und zu dauerte es aber auch bis zu den ersten Hochrechnungen. Welche Anhänger würden ihre Freude am 18.09.2005 am lautesten herausschreien, wer würde das deutsche Volk glücklich machen dürfen? CDU/CSU, oder die SPD, am Ende gar die FDP, vielleicht sogar die Grünen oder womöglich die unberechenbare Linke!
In Bayern gingen sowohl die Uhren als auch die Huren anders, deshalb kam es dort auf andere Gesichtspunkte an. Daß die CSU gewinnen würde, stand, wie immer, schon im Vornherein fest, es ging lediglich darum, wie hoch ihr Sieg dieses Mal ausfallen sollte. Die SPD hoffte darauf, nicht zu stark abgewatscht zu werden und die kleinen Parteien wünschten sich Ergebnisse von über fünf Prozent, auf denen die eigenen Bundesparteien dann als Fundament für das restliche Deutschland aufbauen konnten. Mittlerweile sah man es als strategischen Fehler an, daß sich Egmont Sträuber vor der Wahl nicht auf ein Ressort festlegen hatte wollen. Seine Taktik, quasi als Co-Kanzlerkandidat mitzumischen, war grandios gescheitert, doch nun kam es in erster Linie darauf an, viele Stimmen auf die Waagschale zu bringen und die FDP hinter sich zu lassen, denn sonst hatte man am möglichen zukünftigen Kabinettstisch nur wenig zu sagen. Der Wahltag konnte kommen und er stand auch schon vor der Tür. Würde die Union nach sieben Jahren in der Opposition wieder an die Regierung kommen oder sollte es Andrea Gerkel tatsächlich gelingen, einen sicher geglaubten Wahlsieg noch zu verspielen? Es hatte vor einigen Monaten Wahlumfragen gegeben, in denen der Union die absolute Mehrheit der Mandate zugetraut worden war. Bei 48 % der Wählerstimmen hatte sie seinerzeit gestanden, die SPD dagegen gerade mal bei 24 Prozent. Doch das war verdammt lange her.
18.09.2005: Und dann das! Und dann was? Eine Explosion, ein politisches Erdbeben, eine Katastrophe für die Einen, für die Anderen ein Abend im Glück. Was war passiert? Wozu gab es Meinungsumfragen, wenn sie rein gar nichts mit dem Wahlergebnis zu tun hatten? Die ersten und schlimmsten Verlierer des Wahlabends waren zweifellos die Demoskopen, dicht gefolgt von CDU/CSU. 35,2 Prozent der Stimmen, gerade mal 0,1 % besser als Hartmut Fohl bei seiner Abwahl 1998 und der hatte noch mehr Stimmen eingesackt gehabt, da es damals eine höhere Wahlbeteiligung gegeben hatte. Das war nicht nur ein Trauerspiel, sondern eine Blamage. Aber warum eigentlich? Die Union lag vor der SPD, die es auf 34,3 % gebracht hatte, war demnach stärkste Fraktion im Bundestag und konnte mit hoher Wahrscheinlichkeit den Kanzler, beziehungsweise die Kanzlerin, stellen. Wo also war das Problem? Nun ja, zunächst einmal hatte man mit einem starken Stimmenzuwachs, zumindest prozentual, gerechnet gehabt, aber nicht mit Verlusten. Außerdem hätte es niemand bei CDU/CSU für möglich oder überhaupt denkbar gehalten, daß die SPD nicht einmal einen Prozentpunkt hinter den eigenen Parteien liegen würde. Daß man quasi nur an der Spitze stand, weil die Konkurrenz ein bißchen mehr verloren hatte als man selbst. Hinzu kam, daß es zusammen mit der FDP für eine schwarz-gelbe Koalition nicht reichen würde und das war ja auch eines der wichtigsten Wahlziele gewesen. Immerhin 9,8 Prozent der Wählerstimmen hatten die Liberalen erreicht gehabt, doch zusammen kam man nur auf 45 % und die drei anderen Parteien zusammen auf gut 51 Prozentpunkte, von daher war der Rückstand schon ziemlich deutlich. Klar, Schwarz-Gelb lag über zweieinhalb Punkte vor Rot-Grün, aber da die Linkspartei mit 8,7 Prozent der Wählerstimmen ebenfalls ins Parlament eingezogen war, spielte das alles keine Rolle mehr. Wie war so etwas Schreckliches nur möglich?
Nun ja, fest stand, daß etliche Unionsanhänger die FDP gewählt hatten, um eine Große Koalition zu verhindern und Schwarz-Gelb zu ermöglichen. Der Schuß war allerdings eindeutig nach hinten losgegangen. Zwar freuten sich die Freien Demokraten über ein tolles Ergebnis, doch das brachte ihnen nichts, denn da sie von einer Ampel (eine Koalition mit Rot-Grün) nichts wissen wollten und die Grünen wiederum mit der Schwampel (schwarze Ampel oder Jamaika-Koalition = CDU/CSU, FDP und Grüne) nichts anfangen konnten, lief alles auf eine Große Koalition von Union und SPD hinaus. Hatten die Wähler das gewollt?
Davon ist schwer auszugehen. Rot-Grün wollten die Menschen nicht länger als Regierung haben, Schwarz-Gelb auch, beziehungsweise noch nicht. Von daher blieb nur die Große Koalition übrig, so einfach war das manchmal im Leben.
Die SPD freute sich ohne Ende, denn sie war auferstanden aus Meinungsumfragenruinen und hätte beinahe noch die Union überholt, man hatte wirklich alles rausgeholt, was überhaupt möglich gewesen war. Die Grünen waren ebenfalls zufrieden, mit 8,1 Prozent der Stimmen hatten sie sich wacker geschlagen und die Linken waren mit 8,7 % souverän in den Bundestag eingezogen, hatten sowohl Schwarz-Gelb als auch Rot-Grün verhindert und konnten davon ausgehen, bei den nächsten Wahlen weiter zuzulegen, sofern es im Bund zu einer Koalition aus Union und SPD kam, was als ziemlich wahrscheinlich galt.
Nur in Bayern war mal wieder eine Welt zusammengebrochen. Die CSU hatte ihr Wahlziel 50 plus X nicht erreicht, es waren gerade mal 49,3 % geworden und das sorgte schon für Fassungslosigkeit sowie Kopfschütteln in den eigenen Reihen. Sträuber bekam eine Mitschuld aufgebürdet, doch davon wollte Meister Ege selbstverständlich überhaupt nichts wissen. Er verwies auf die schwachen CDU-Wahlergebnisse in den ganzen anderen Bundesländern und hob hervor, daß die CSU zehn Prozent vor der zweitplatzierten CDU aus Baden-Württemberg und fast 30 Prozent vor der Brandenburger CDU, welche unionsintern auf dem letzten Platz gelandet war, lag. Leihstimmen an die FDP hätten den Ausschlag für das eigene bescheidene Wahlergebnis gegeben, hieß die offizielle Sprachregelung, diese unverschämten taktischen Wähler hatten der großen Bayernpartei mal wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wenn man ganz ehrlich war, dann mußte man durchaus zugeben, daß jene Erklärung ziemlich schlüssig daherkam. Eine Gerkel konnte halt als Kanzlerkandidatin nicht so mobilisieren wie ein Sträuber, das hatte man ohnehin schon vorher gewußt gehabt und war nun eindrucksvoll bestätigt worden. Aber bitter war es für die CSU-Granden schon, daß die eigene Partei mit 7,4 % der Stimmen bundesweit auf dem letzten Platz aller im Parlament vertretenen Parteien gelandet war. Nichtsdestotrotz tat Sträuber so, als wolle er dennoch als Minister nach Berlin gehen und es gab viele Leute in der CSU, die ihn so schnell wie möglich aus Bayern draußen haben wollten und wenn er als "Staatssekretär im Entwicklungshilfeministerium" landen würde, Hauptsache er verzog sich endlich.
Schräder hatte in der "Elefantenrunde" am Wahlabend einen großen Auftritt hingelegt gehabt, er hatte die Medien und die Demoskopen kritisiert und klargemacht, daß er deutscher Bundeskanzler СКАЧАТЬ