Название: Mythos, Pathos und Ethos
Автор: Thomas Häring
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783738030754
isbn:
26.09.2005: Doch wer geglaubt hatte, die SPD würde das Schlachtfeld kampflos verlassen, sah sich wenig später ein weiteres Mal getäuscht, denn plötzlich kursierte ein neuer Vorschlag der Sozialdemokraten. Schräder und Gerkel sollten sich das Kanzleramt teilen; erst würde Schräder noch 18 Monate lang regieren, danach könnte Gerkel dann für den Rest der Legislaturperiode übernehmen, lautete die vergiftete Botschaft. Man merkte, daß die Sozen spürten, daß ihnen der Wind immer schärfer ins Gesicht blies, weshalb sie von ihrer ehemaligen Maximalforderung schon ein gutes Stück abgerückt waren. Eine besondere Ironie enthielt die Idee ohnehin: Hätte Schräder nicht höchstpersönlich Neuwahlen ausgerufen, dann wäre er ja bis September 2006 ohnehin deutscher Bundeskanzler geblieben, von daher wollte man im Grunde nur noch sechs Monate zusätzlich zu der Zeit, die er sowieso hätte haben können. Ja, irgendwie waren die Auflösungserscheinungen schon deutlich sichtbar geworden und da die Granden in der Union wußten, daß es sich bei der ganzen Sache um einen vielleicht letzten verzweifelten Versuch der SPD handelte, vom Kanzlerkuchen womöglich doch noch ein Stück abzubekommen, lehnte man sogleich dankend ab und verwies jene "Hirngespinste" schnell wieder dorthin, wo sie hergekommen waren.
Klar, als relativ neutraler und objektiver Beobachter konnte man durchaus nachvollziehen, daß die SPD nach sieben Jahren mit einem Bundeskanzler aus den eigenen Reihen nicht so einfach und schnell darauf verzichten konnte und wollte, aber irgendwie merkte man immer mehr, daß es sich dabei mittlerweile lediglich um ein taktisches Spielchen handelte, mit dessen Hilfe man bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen so viel wie möglich für die SPD herausholen wollte. Das hatte den unerwünschten Nebeneffekt zur Folge, daß sich die gesamte Union mit Andrea Gerkel solidarisierte, was ihre Kanzlerschaft umso wahrscheinlicher machte, denn die Kronprinzen mußten nun hinter ihr stehen und sie unterstützen, ganz gleich ob denen das in den Kram paßte oder nicht.
Ende September 2005: Es wäre mal wieder an der Zeit, einen Blick nach Bayern zu werfen. Inzwischen hatte sich in der CSU die Meinung durch- sowie festgesetzt, daß im Falle einer Großen Koalition Egmont Sträuber als Minister in ein Kabinett Gerkel eintreten sollte und würde. Damit waren alle Beteiligten einverstanden, so daß es fortan noch intensiver um die Frage ging, wer dem lieben Egi denn in Bayern als Ministerpräsident nachfolgen werde. Das Duell zwischen Zuber und Blackschein schien der Franke für sich entschieden zu haben, da er sowohl in der CSU-Fraktion als auch in der bayerischen Bevölkerung wesentlich besser ankam als der Reformator Zuber, der einfach nur Sträubers Befehle befolgt und sich damit den Unmut der Abgeordneten sowie der Massen zugezogen hatte. Ja, manchmal war es eben doch nicht so klug, wenn man sich zu nah an den Regenten hielt, denn sobald der weg war, stand man plötzlich fast ganz alleine da. Interessant bei der ganzen Geschichte war außerdem, daß sowohl der damalige Innenminister Sträuber als auch der aktuelle Blackschein es geschafft hatten, innerhalb der CSU-Fraktion integrierend zu wirken und sich beliebt zu machen, obwohl sie nach außen hin den "harten Hund", den "Law und Order-Politiker" gegeben hatten. Durchaus bemerkenswert, man brauchte also scheinbar doch irgendwie zwei Gesichter im politischen Leben.
Wenn man sich nicht einigen kann, dann ist es meistens am klügsten, daß man den Streitpunkt zunächst ausklammert und sich erst mit den Feldern beschäftigt, auf denen eine gemeinsame Lösung eher zu finden ist. So handhabten es auch die Union und die SPD, weshalb man bei den Sondierungsgesprächen gut vorankam und sich eine Große Koalition immer deutlicher am politischen Horizont abzeichnete. Hinzu kamen die Signale von der SPD-Spitze, die keinen Zweifel daran ließen, daß es letzten Endes um die Partei und nicht um Bernhard Schräder gehen würde, was der Betroffene so selbst auch bereits verlauten hatte lassen. Fest stand also, daß sich die Genossen in der letzten Konsequenz nicht quer stellen und entgegen aller anders lautenden Verlautbarungen Andrea Gerkel doch zur Bundeskanzlerin wählen würden, wenn es denn unbedingt sein mußte.
Derweil freute sich Egmont Sträuber schon auf die Zusammenarbeit mit Dan Mützewirsing im neuen Bundeskabinett, denn er hatte bereits ein Jahr zuvor in der Föderalismus-Kommission, in der sie Beide hervorragend zusammengearbeitet hatten, gute Erfahrungen mit dem Sauerländer gemacht gehabt. Gerkel und Schräder hatten jene Arbeit so gut es gegangen war ignoriert, wahrscheinlich hatte es ihnen auch irgendwie nicht in den Kram gepaßt gehabt, daß sich der SPD- und der CSU-Chef persönlich so gut verstanden hatten.
Fernab von all diesen Personalien sprach Friedbert Nerz von der CDU mit Lothar Schilli von der SPD bei einem gemeinsamen Frühstück im Café Einstein über die wirklich wichtigen Dinge, welche die Welt da draußen viel mehr bewegten.
"Mmh, das Croissant schmeckt aber wirklich lecker. Sie haben es gut, Herr Schilli, Ihre Rente ist wenigstens sicher", fand Nerz. "Da wäre ich mir nicht so sicher, jetzt kommt bestimmt bald die Rente mit 67", wandte jener ein. "Und wenn schon, Sie wird das alles nicht mehr betreffen. So Jungspunde wie ich haben es da schon schwerer." "Ach was, mein lieber Friedbert, Ihr von der Union findet doch immer einen Job in der Wirtschaft." "Ich glaube, Sie verwechseln uns da mit der FDP." "Eben gerade nicht. Die FDP-Politiker würden bloß jede Menge Unruhe in die Firmen bringen, die würden gegen die Gewerkschaften kämpfen und sich damit bei der Belegschaft unbeliebt machen. Ihr dagegen polarisiert nicht so und seid bei den Managern hoch angesehen." "Mal abwarten, ob das auch so bleibt. Die Gerkel wird in der Großen Koalition bestimmt keine einzige der Reformen beginnen, die sie damals in Leipzig versprochen hat." "Davon ist auszugehen, die will schließlich in vier Jahren wiedergewählt werden." "Aber Deutschland braucht unbedingt Reformen. Das, was der Schräder da fabriziert hat, das war ja ganz nett und natürlich besser als nichts, doch das darf und kann nur der Anfang sein." "Na ja, ich habe eher das Gefühl, den Leuten würde es schon wieder reichen." "Genau das ist das Problem. Dieses faule deutsche Volk ist fett und müde geworden. Die Leute sitzen träge vor dem Fernseher und schimpfen auf die Politik. Dabei sollten sie sich mal bewegen, flexibler werden und nicht meinen, der Staat würde schon alles für sie richten und erledigen." "Tja, die sind halt an den guten alten Sozialstaat gewöhnt und die im Osten noch mehr." "Das ist ja das Schlimme an der ganzen Sache. Eigenverantwortung klingt für die meisten Menschen im Land wie eine Drohung." "Na ja, wir reden uns leicht, wir sind ja abgesichert und fallen nicht tief. Stellen Sie sich doch zum Beispiel mal vor, wie die Kollegen von der FDP aufheulen würden, wenn ihre Partei eines Tages nicht mehr in den Bundestag käme. Da wäre das Geschrei groß." "Lieber Lothar, das ist eine hypothetische Frage, die Sie da aufwerfen, denn wir wissen Beide, daß die FDP immer ins Parlament gewählt werden wird." "Man wird ja wohl noch mal träumen dürfen", murmelte der Innenminister leicht verstimmt. "Und überhaupt, wann wechseln Sie denn endlich zu uns? Von Ihrer Politik her gehören Sie ja ohnehin schon längst zu unserer Partei." "Ach, wissen Sie, in meinem Alter reitet man weiter auf dem jahrelang gewohnten Pferd in den Sonnenuntergang." "Ein schönes Bild. Oh, was sehe ich da, ein Bierdeckel. Dürfte ich Ihnen darauf ganz kurz mein Konzept für eine Steuerreform vorstellen?" "Nein danke, dafür habe ich jetzt leider keine Zeit. Hat Euch das Debakel mit dem Kirchdorf denn noch nicht gereicht?" "Ganz im Gegenteil, jetzt bin ich nämlich mehr denn je von meiner Steuerreform überzeugt, nach der die Steuerpflichtigen ihre Einkommensteuererklärung zukünftig auf einem Bierdeckel machen werden können." "Du meine Güte, hört das denn niemals auf?" "Die Rechnung kommt zuletzt." "In unserem Fall zum Glück nicht, hier ist sie nämlich schon. Ich muß weg." "Typisch Sozi! Erst die Kosten verursachen und dann nicht dafür blechen wollen."
10.10.2005: Ganz Deutschland war von Anhängern der Großen Koalition besetzt. Ganz Deutschland? Nein, ein kleiner Bezirk in Bayern kämpfte tapfer gegen die schwarz-roten Eindringlinge und wehrte sich entschlossen gegen die Krönung ihrer Anführerin Andrea Gerkel. Lustig daran war allerdings, daß es sich dabei um Störfeuer aus den bayerischen Wäldern handelte, nämlich um den Bezirk Oberpfalz, dessen SPD-Delegierte es sich weder vorstellen konnten noch wollten, mit ihren Stimmen jene Frau Gerkel zur Kanzlerin zu wählen. "Ausgerechnet die Bayern-SPD", werden sich Schräder und Mützewirsing СКАЧАТЬ