Название: Carl Schmitts Gegenrevolution
Автор: Reinhard Mehring
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783863935771
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3. Quellenfrage
Hier soll die Weimarer Republik aber nicht weiter vom Ende her betrachtet werden, sondern von den Anfängen. Wie sah Schmitt sie 1918/19 und was bot er zur juristischen Beschreibung auf? Sah er den Systemwechsel bereits in den Kategorien seiner späteren Verfassungslehre und war er von Beginn an ein antiliberaler Gegner? Oder gab es vor 1923 einen anderen Schmitt, Vernunft- oder gar Herzensrepublikaner? 1940 publizierte Schmitt eine gewichtige Sammlung von Interventionen unter dem Titel Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles. Grob gesagt deutete er die Weimarer Republik und den Genfer Völkerbund hier vom „Diktatfrieden“ von Versailles her. Weimar und Genf betrachtete er gleichsam als Systeme der Sieger von 1918/19. Schmitt beschloss diese Sammlung im August 1939 kurz vor Kriegsbeginn und datierte seinen Dreifrontenkampf auf die Jahre 1923 bis 1939. Zweifellos setzte er seinen Kampf gegen „Versailles“ auch nach 1939 fort. Seine Schrift Völkerrechtliche Großraumordnung proklamierte eine „Überwindung des Staatsbegriffs“ durch imperiale Großraumordnungen und reklamierte den mitteleuropäischen Großraum als hegemonialen Herrschaftsraum für das nationalsozialistische Reich. Eine fortdauernde kritische Betrachtung Weimars ist auch nach 1945 bei Schmitt offenbar.
Weitaus schwieriger ist aber die Antwort auf den Beginn dieses verfassungspolitischen „Kampfes“. Der „Kampf“ gegen Versailles, Genf und Weimar ist eigentlich erst ab 1923 publizistisch greifbar. Davor hat Schmitt keine eingehenden Analysen der Lage publiziert. Für die genaue Verortung in den Münchner Jahren 1915 bis 1921 oder gar der Umbruchzeit von 1918/19 fehlen nicht nur einschlägige Schriften, sondern auch aussagekräftige briefliche Zeugnisse und andere Quellen. Das Tagebuch bricht Ende 1915 ab und beginnt erst im Spätsommer 1921 wieder mit dem Wechsel nach Greifswald. Nur wenige Briefe aus Münchner Zeit sind bisher ediert. Dass diese Jahre nach wie vor im Dunklen liegen, hat mindestens einen starken persönlichen Grund: das Scheitern von Schmitts erster Ehe mit der legendären Halbweltdame und Hochstaplerin Carita Dorotić, die sich als Gräfin ausgab und fünf Jahre jünger machte. Im Zusammenhang mit diesem Ehedebakel und -skandal hat Schmitt wahrscheinlich Dokumente vernichtet. Erst mit der beruflichen Etablierung als Ordinarius in Bonn sind die biographischen Quellen reichlicher erhalten. Wer Schmitts Haltung zum Umbruch von 1918/19 rekonstruieren möchte, stößt also auf ein Quellenproblem, das die späteren retrospektiven Äußerungen nur zu bereitwillig übertünchten. Schmitt hat seine Biographie mit mancherlei Legenden verstellt. Zeitnahe authentische Zeugnisse sind eigentlich nur die großen Monographien Politische Romantik und Die Diktatur von 1919 und 1921. Von den früheren und späteren Schriften her ist aber klar, dass es beachtliche Positionswandel gab und der Schmitt von 1925, 1928 oder 1933 nicht mit dem Autor des Frühwerks zu verwechseln ist.
4. Rückblick 1928
Schmitts „dezisionistische“ Verfassungslehre argumentiert mit politischen Entscheidungen und „Grundentscheidungen“: Positive Verfassungsentscheidungen profilieren sich in „substanziellen“ Alternativen. Das Lehrbuch Verfassungslehre von 1928 führt die „grundlegenden politischen Entscheidungen“ Weimars eingehend aus:
„Dadurch charakterisiert sich das Deutsche Reich der Weimarer Verfassung als eine konstitutionelle Demokratie, d. h. als ein bürgerlicher Rechtsstaat in der politischen Form einer demokratischen Republik, mit bundesstaatlicher Struktur. […] Alles, was es innerhalb des Deutschen Reichs an Gesetzlichkeit und an Normativität gibt, gilt nur auf der Grundlage und nur im Rahmen dieser Entscheidungen. Sie machen die Substanz der Verfassung aus. Daß die Weimarer Verfassung überhaupt eine Verfassung ist und nicht eine Summe zusammenhangloser, nach Art. 76 RV. abänderbarer Einzelbestimmungen, welche die Parteien der Weimarer Regierungskoalition auf Grund irgendwelcher ‚Kompromisse‘ in den Text zu lanzieren verstanden, das liegt nur in dieser existentiellen Totalentscheidung des deutschen Volkes.“ (VL 24)
Schmitt schreibt 1928 auch:
„Die Weimarer Verfassung ist eine Verfassung, nicht nur eine Reihe von Verfassungsgesetzen. Sie enthält die grundlegenden politischen Entscheidungen für eine konstitutionelle Demokratie. Im übrigen aber findet sich sowohl in der verfassungsgesetzlichen Ausführung wie in einzelnen Anordnungen – insbesondere des zweiten Teiles unter der Überschrift ‚Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen‘ – ein Nebeneinander von Programmen und positiven Bestimmungen, dem die verschiedenartigsten politischen, sozialen und religiösen Inhalte und Überzeugungen zugrunde liegen. Bürgerlich-individualistische Garantien von persönlicher Freiheit und Privateigentum, sozialistische Programmsätze und katholisches Naturrecht sind in einer oft etwas wirren Synthese miteinander vermengt. Dabei ist zu beachten, daß zwischen den letzten Gegensätzen echter religiöser Überzeugungen, ebenso zwischen echten Klassengegensätzen ein Kompromiß im allgemeinen kaum möglich und jedenfalls sehr schwierig ist. Wenn es sich um eine Verfassung handelt, wird er nur dadurch möglich, daß der Wille zur politischen Einheit und das staatliche Bewußtsein alle religiösen und klassenmäßigen Gegensätze überwiegt, sodaß jene kirchlichen und sozialen Verschiedenheiten sich relativieren. Die unmittelbar mit der politischen Situation zur Entscheidung gestellten, grundlegenden politischen Fragen – im Jahr 1919 also die Frage: Monarchie oder Republik? Konstitutionelle Demokratie oder Rätediktatur? – konnten nicht umgangen werden und sind nicht umgangen worden.“ (VL 30)
Solche und ähnliche Formulierungen finden sich in der Verfassungslehre vielfach. Schmitts Kampf für eine systematische Auslegung der Verfassungsgesetze von den substantiellen „Grundentscheidungen“ her klingt aber im Zitat schon ebenso an wie eine leise Stigmatisierung der Rolle der Parteien, Kirchen und sozialistischen Bewegung bei der Formulierung des heterogenen Verfassungskompromisses. Es ist hier nicht weiter zu zeigen, wie Schmitt die Systematik des „bürgerlichen Rechtsstaats“ nach 1928 in Richtung auf einen „autoritären“ Exekutivstaat dekonstruierte und die tragenden „rechtstaatlichen Bestandteile“ der modernen Verfassung – den rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff, Grundrechte und die liberale Gewaltenunterscheidung – der Reihe nach abbaute. Hier ist zunächst nur zu fragen, was er von der „existentiellen Totalentscheidung des deutschen Volkes“ im Jahre 1918/19 dachte.
5. Münchner Umbrucherfahrung
Schmitt lebte von 1915 bis 1921 in München. Er war 1915, nach Abschluss des 2. juristischen Staatsexamens, als Soldat und Verwaltungsjurist ins Stellvertretende Generalkommando München gewechselt und erlebte dort noch das Kriegsende sowie die Räterevolution bis zum Sommer 1919 als Heeresjurist. In München schlug СКАЧАТЬ