Carl Schmitts Gegenrevolution. Reinhard Mehring
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Название: Carl Schmitts Gegenrevolution

Автор: Reinhard Mehring

Издательство: Bookwire

Жанр: Социология

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isbn: 9783863935771

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СКАЧАТЬ in die Bahnen der älteren Totalitarismusforschung ein.

      Hannah Arendt,44 beispielsweise, hatte die totalitäre Bewegung und Herrschaft vom Antisemitismus und Imperialismus her gesehen und die moderne Diskriminierungs- und Terrorgeschichte vom Scheitern des Ordnungsprinzips des Nationalstaats her beschrieben. Der Nationalstaat trug den Sprengstoff des Nationalismus in sich. Das zeigte sich in europäischen Kernstaaten zunächst im Scheitern der Emanzipation und Assimilierung am Antisemitismus, wie er Ende des 19. Jahrhunderts als Dreyfus-Affäre in Frankreich eskalierte. Mit dem kolonialen Imperialismus radikalisierte sich die Diskriminierungslogik auch rassistisch. Dieser entfesselte Nationalismus und Rassismus traf am Ende des Ersten Weltkriegs auf Wilsons doktrinären Glauben an die Weltmission der demokratischen „Selbstbestimmung“45 der Völker. Arendt beschrieb in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft schon das Scheitern der europäischen Nachkriegsordnung von Versailles am Nationalstaatsprinzip und Nationalismus. Es war nicht möglich, die europäische Landschaft mit dem Prinzip der „Selbstbestimmung“ zu ordnen, weil der Nationalismus überall imperial und diskriminierend wurde. Die Erbschaft der Doppelmonarchie ließ sich damit ebensowenig pazifizieren wie die nordeuropäischen Verhältnisse am Rande der weltrevolutionären Sowjetunion.

      Die heutige Historiographie entdeckt dieses gesamteuropäische Krisenszenario neu. So stellte Jörn Leonhard46 das Scheitern von „Versailles“ detailliert heraus. Er zeigte eindrücklich, wie „global“ die Entwicklungen waren und wie die hohen Erwartungen und offenen Ausgänge vom Herbst 1918 seit dem Frühjahr 1919 in diplomatischen Verhandlungen, Kriegs- und Bürgerkriegslagen enttäuscht wurden, sodass Versailles keine stabile Nachkriegsordnung schuf. Es ist zwar wenig plausibel, dass Robert Gerwarth seiner Darstellung des „blutigen Erbes des Ersten Weltkriegs“ einen Lobpreis des revolutionären „Aufbruchs in eine neue Zeit“ folgen ließ.47 Die neuere Forschung hat aber in einer Gegenrechnung zur älteren Forschung auch die offenen und positiven Möglichkeiten der Weimarer Republik vielfach erwogen. Dreyer spricht in einem knappen Überblick gar von einem „Paradigmenwechsel“,48 der gängige „Irrtümer“49 und „teleologische Täuschungen“50 kritisiert, die von 1930 oder 1933 her finalisieren.

      Zwar gab es selbstverständlich auch für die Übergangszeit 1918/19 schon Traditionen und Hypotheken, Präferenzen und Präfigurationen, Vorprägungen und Richtungsentscheidungen. Gerade für diese Übergangszeit vor der Ratifizierung des Versailler Vertrages und der Weimarer Verfassung ist aber eine relative Offenheit der Lage zu betonen. Oliver Haardt und Christopher Clark schreiben dazu: „So instabil war die politische Lage im Frühjahr 1919, dass wirklich alles möglich schien – eine kommunistische Machtübernahme, wie in München kurzzeitig geschehen, die Errichtung eines von der Reichswehr gestützten rechtsautoritären Regimes oder gar eine Wiedereinsetzung der Hohenzollern. Diese Offenheit der historischen Situation war vor allem Folge des plötzlichen Wegfalls der alten Machtstrukturen.“51 Der Weimarer Verfassungstext bot zwar eine innovative „soziale Programmatik“, wie Stolleis und Dreier im selben Band ausführen.52 Das geläufige Urteil, dass die Gewaltenbalancierung zwischen Reichstag und Reichspräsident nicht wirklich funktionierte, weil der schwache Parlamentarismus aus der Primärverantwortung der Regierungsbildung in die Präsidialkabinette floh, wird aber weiter vertreten.53 Schmitt warnte in Weimar einst vor der Schwäche des Parlamentarismus und der Machtfülle des Reichspräsidenten, seine „kommissarischen“ Befugnisse in die Richtung einer „souveränen Diktatur“ zu entwickeln. Seine Pathogenese der Weimar Dekomposition ist nach wie vor vielfach erhellend und zutreffend, so interessiert und einseitig sie auch war.

       2. Berlin ist wieder Weimar? Regierungsbildungskrise 2017/18

      Schmitt gilt heute mit seiner Verfassungslehre und seinen Interventionen vor allem als antiliberaler, parlamentarismuskritischer Totengräber Weimars und Apologet des Präsidialsystems und des Nationalsozialismus. Mit der Öffnung des Nachlasses und editorischen Erschließung zahlreicher privater Quellen (Tagebücher, Briefwechsel) wurde er seit den frühen 1990er Jahren verstärkt auch als Zeitzeuge, Akteur und Repräsentant der Weimarer Republik wahrgenommen. Die dogmatische Rekonstruktion und Aktualisierung seiner „Politischen Theologie“ und Verfassungslehre trat dagegen zurück. Die deutsche Forschung hatte die privilegierte Aufgabe,54 den Akteur zu erschließen. Schmitt wurde mit seinem „System Plettenberg“ dabei – u.a. durch Dirk van Laak55 – als Mentor einiger Vordenker der Bundesrepublik entdeckt. Zeithistorisch wichtiger noch war aber die Frage nach dem verfassungspolitischen Akteur im Präsidialsystem und Nationalsozialismus. Mit der Edition der (von 1912 bis 1934) erhaltenen Tagebücher zeigte sich zwar, dass Schmitts verfassungspolitische Beraterfunktion und Akteursrolle im Präsidialsystem recht beschränkt war: Es gab keine Beziehung zu Brüning; die Streitfrage der 1990er Jahre,56 ob er Papen oder Schleicher näher stand, ist heute aus den Quellen recht eindeutig zu beantworten: Nur mit Papen gab es gelegentliche, verfassungspolitisch wirksame Begegnungen. Bemühungen, Zugang zu Schleicher zu finden, strandeten dagegen im Vorhof des „Machthabers“. Von relevanter Kooperation kann deshalb eigentlich nur für den Herbst 1932 und die Verteidigung des „Preußenschlags“ vor dem Leipziger Staatsgerichtshof die Rede sein; entgegen der Vermutung Hubers57 war Schmitt am „Preußenschlag“ selbst nicht beteiligt und auch seine juristische Unterstützung Schleichers kam beim Kanzler nicht an, sodass die Akteursrolle im Präsidialsystem im Januar 1933 bereits ausgespielt war. Schmitt wirkte insgesamt mehr durch seine Schriften. Seine Apologie des Präsidialsystems hat heute aber wieder einige Aktualität.

      Ganz grundsätzlich lässt sich Schmitt als Analytiker und Apologet der Erosion und Transformation einer liberalen und parlamentarischen Demokratie in eine antiliberale, plebiszitär-populistische und autokratische Exekutivstaatlichkeit auffassen. Schmitt gab dafür vor 1933 schon das Stichwort von der Wendung zum „totalen Staat“ aus, und sein Schüler Forsthoff zog verwaltungsstaatliche Konsequenzen, die weiter wirkten. Diese Transformationsanalyse ist auch jenseits der deutschen Geschichte exemplarisch lehrreich. Wir erleben heute nicht nur gravierende Erosionen der liberalen Kultur: einen Zerfall der politischen Mitte und dramatischen Wandel des Parteiensystems, sondern auch Regierungsbildungskrisen, eine labile Große Koalition und Szenarien von Misstrauensvoten, Vertrauensfragen und Neuwahlen bei ungewissem Ausgang und Zerfall der „Volksparteien“. Die Phase der Weimarer Präsidialsysteme begann bekanntlich 1930 mit einem Ausstieg der SPD aus einer Großen Koalition. Dieter Grimm schreibt dazu erneut, was in den 1950er Jahren schon geläufig war: „Der Regierungswechsel vom März 1930 war der Anfang vom Ende der Weimarer Republik.“58 Fortan gab es nur noch tolerierte Minderheitsregierungen, die vom Vertrauen des Reichspräsidenten abhingen. Dieses Szenario einer präsidial getragenen Minderheitsregierung war Ende 2017 erneut möglich und blieb virulent: Nach dem Scheitern der Koalitionsverhandlung einer „Jamaika“-Lösung (Union, Grüne und FDP) war ein Wiedereintritt der SPD in eine Große Koalition sehr umstritten und es drohten Neuwahlen oder – erstmals in der Geschichte der BRD – eine Minderheitsregierung. Weil Neuwahlen in 2018 aber voraussichtlich die politische Mitte schwächen und Ränder stärken würde, appellierte Bundespräsident Steinmeier an seine SPD, aus staatspolitischer Verantwortung erneut in eine Große Koalition zu gehen. Er dachte dabei ausdrücklich auch an die Lehren von „Weimar“ und die fatalen Folgen des Ausstiegs der SPD aus der parlamentarischen Regierungsverantwortung im Jahre 1930.

      Am 23. Mai 2018 eröffnete Steinmeier eine Diskussionsrunde des Forums Bellevue zur „Zukunft der Demokratie“ mit der Erinnerung an das „Scheitern von Weimar“. Ausdrücklich meinte er: „Hat sich der Befund eigentlich historisch erledigt?“ Damit stellte er den alten Beschwörungsund Beschwichtigungstopos „Bonn ist nicht Weimar“ infrage. Aus dem Munde des Bundespräsidenten grenzte das an Tabubruch: In der Absetzung von den starken Befugnissen des direkt gewählten Reichspräsidenten steht sein Amt ja für den systemischen Unterschied zwischen der präsidialen und der parlamentarischen Demokratie und die Differenz zu Weimar. Nun erklärte er der Bundesrepublik, dass selbst sie vor Unregierbarkeit und Minderheitsregierungen nicht gefeit ist und ihre verfassungsrechtlichen Sicherungen СКАЧАТЬ