Название: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie
Автор: Ingo Pies
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная деловая литература
isbn: 9783846345757
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Dreh- und Angelpunkt des ökonomischen Forschungsprogramms ist eine methodisch kontrollierte „pragmatische Reduktion“[119] von Komplexität: die Übersetzung von gesellschaftlichen Daten-Änderungen (Explanans) in individuelle Preis- und Einkommenseffekte, die dann auf gesellschaftliche Raten-Änderungen (Explanandum) schließen lassen. Diese Komplexitätsreduktion enthält radikale Vereinfachungen – und wird gerade dadurch voraussetzungsreich. Und genau dies sollte gezeigt werden: Der ökonomische Imperialismus ist nicht erst die Folge davon, dass der ökonomische Ansatz erfolgreich ist, sondern er ist eine Voraussetzung für diesen Erfolg. Er ist kein Ex-Post-Phänomen, sondern eine Ex-Ante-Bedingung. Der ökonomische Imperialismus erfüllt im ökonomischen Ansatz eine heuristische Funktion. Sein methodischer Sinn besteht darin, bereichsontologische Immunisierungen zu vermeiden, d.h. einen der Wege für eine unproduktive Verarbeitung von Anomalien zu versperren. Der Imperialismus der Ökonomik leistet damit – wie der Imperialismus anderer Wissenschaftsdisziplinen auch – einer größeren Systematizität Vorschub.[120]
|90|3. Ökonomischer Imperialismus und Inter-Disziplinarität
(1) Die methodologische Konsolidierung der Forschungsarbeiten Gary Beckers zum ökonomischen Ansatz – und erst recht die weitere Entwicklung dieser Forschungsarbeiten seit Mitte der 1970er Jahre – enthält Hinweise darauf, wie man sich, ausgehend vom ökonomischen Imperialismus, Inter-Disziplinarität sinnvoll vorstellen kann – und wie nicht. Nicht sinnvoll ist Interdisziplinarität als psycho-logisierende Durchbrechnung oder sozio-logisierende Aufweichung der ökonomischen Modell-Logik. Dabei ist unbestritten, dass menschliches Verhalten durch Beschränkungen der kognitiven (und emotionalen) Fähigkeiten ebenso beeinflusst wird wie durch die Erwartungshaltung der sozialen Umwelt. Strittig ist nur, inwiefern dies für ökonomische Fragestellungen jeweils relevant ist und wie diese Relevanz gegebenenfalls so berücksichtigt werden kann, dass die ökonomische Modell-Logik intakt bleibt und die analytische Leistungsfähigkeit des theoretischen Verfahrens beibehalten und sogar gesteigert werden kann.
Ein gutes Beispiel hierfür ist das bekannte Phänomen, dass Menschen sich in bestimmten Situationen anders verhalten, als es der Axiomatik des ökonomischen Modells zu entsprechen scheint. Hierauf sind mindestens vier Reaktionen möglich. Erstens kann man diese sog. Verhaltensparadoxien ignorieren, nach dem Motto: Was haben psychologische Laboruntersuchungen mit Wirtschaft zu tun? Für einen ökonomischen Imperialisten freilich scheidet diese bereichsontologische Abschirmung von vornherein aus. Die zweite Reaktion besteht darin, menschliche Denkprozesse und deren mögliche Defekte genauer zu erforschen. Eine solche Reaktion ist sicherlich sinnvoll, aber da sie einer psychologischen, kognitionswissenschaftlichen Fragestellung folgt, scheidet sie für einen ökonomischen Imperialisten aus. Er muss sich folglich für eine der verbleibenden Möglichkeiten entscheiden. Die dritte mögliche Reaktion besteht darin, die psychologischen Forschungsergebnisse zur Kenntnis zu nehmen und nach Wegen zu suchen, die ökonomische Modell-Axiomatik entsprechend anzupassen. Hierbei begegnet jedoch die Schwierigkeit, dass die damit zunehmende Komplexität im Modell die analytische Leistungsfähigkeit des Modells beeinträchtigt, nämlich die Fähigkeit, im Rahmen einer mikrofundierten Makroanalyse so zur Komplexitätsreduktion beizutragen, dass Erklärungen und sogar Prognosen möglich werden. Insofern sprechen insbesondere heuristische Gründe für die vierte Möglichkeit. Sie besteht darin, nicht die Annahme einer Nutzenmaximierung zu problematisieren, sondern die Spezifikation der Nebenbedingungen, unter denen die Maximierung des Nutzens erfolgt. Hier werden die psychologischen Forschungsergebnisse also als kognitive Restriktion in Ansatz gebracht. Gefragt wird dann nach dem rationalen Umgang mit „Irrationalität“ (im Sinne kognitiver Beschränkungen) sowie nach den institutionellen Vorkehrungen für |91|einen solchen Umgang, und dies ist eine genuin (institutionen-)ökonomische Fragestellung.[121]
(2) Die neueren Arbeiten Gary Beckers zur Weiterentwicklung der Humankapitaltheorie[122] zeigen einen Weg auf, wie die Erkenntnisse anderer Wissenschaftsdisziplinen im ökonomischen Ansatz verarbeitet werden können: Unterstellt sei eine allgemeine Haushaltsproduktionsfunktion, derzufolge ein Zielgut (Zj) durch den Einsatz von Marktgütern (xi), Zeit (Tj) und Humankapital (Hj) hergestellt wird.
Dieses Humankapital, das als Einsatzfaktor in der Produktion eines Zielgutes dessen Schattenpreis mitbestimmt, lässt sich nun weiter differenzieren in Personal- und Sozialkapital. Es sind diese beiden Kategorien, die einen geeigneten Ansatzpunkt bilden, um insbesondere psychologischen, pädagogischen, physiologischen und soziologischen Erkenntnissen über die Bestimmungsfaktoren menschlichen Verhaltens Rechnung zu tragen.
„Personalkapital“ ist der ökonomische Fachausdruck für das, was man umgangssprachlich als „Körper und Seele“ eines Menschen bezeichnet. Es handelt sich um eine Zusammenfassung von psychischem und physischem Kapital. Man könnte auch von mentalem, geistigem Kapital einerseits und Gesundheitskapital andererseits sprechen. Der entscheidende Punkt hierbei ist, dass das Personalkapital die periodischen Nutzenmaximierungsanstrengungen des modellierten Individuums intertemporal verknüpft. Auf diese Weise lässt sich ökonomisch erklären, „why, for example, the desire to smoke is greater when a person has been smoking heavily for a while, why eating corn flakes regularly for breakfast increases the future demand for this cereal, why telling lies and acting violently increases the tendency to lie and commit violence, why saving becomes habitual, even when people become old and have few years to spend their wealth, why growing up in a religious family greatly increases the likelihood that a person is religious as an adult, or why living with a wife for many years generates such strong dependencies that the husband may experience a mental and physical breakdown after she dies“[123].
In diesem Modell lässt sich berücksichtigen, dass die Vergangenheit einen Schatten auf die Zukunft wirft: Heutige Aktivitäten führen zum Abbau bzw. Aufbau von Personalkapital und bestimmen damit einen Teil der Restriktionen für zukünftige Aktivitäten, ebenso wie heutige Aktivitäten von jenem Bestand an Personalkapital auszugehen haben, der das Resultat früherer Aktivitäten ist. Aus dieser Perspektive ist der Mensch gewissermaßen ein Gefangener seiner Erfahrungen. Aber er ist kein willenloser Sklave dieser Erfahrungen, denn er kann – wenn schon nicht auf seine vergangenen, so doch – auf seine gegenwärtigen und zukünftigen Erfahrungen systematisch Einfluss nehmen. In diesem Sinn hat jeder Mensch sein Schicksal zumindest teilweise selbst in der Hand.
|92|Der Begriff „Personalkapital“ verweist darauf, dass eine Person das ist, was sie geworden ist. Da sich dieser Kapitalbestand zwar in Grenzen, nicht aber beliebig ändern lässt, kommt es zu Pfadabhängigkeiten personaler Entwicklung: „Parents have enormous influence over the experiences of their children, especially during the formative early years, and these childhood experiences can greatly influence adult … choices. For example, adults who had hard-working and caring parents tend to work harder and care more about their children than adults who had abusive parents, or parents who were addicted to drugs.“[124]
„Sozialkapital“ ist der ökonomische Ausdruck dafür, dass rationales Verhalten durch die Erwartungen der Umwelt – zwar nicht fremdbestimmt, wohl aber – zumindest mitbestimmt wird. Im Unterschied zur Kategorie des Personalkapitals steht hier nicht der inter-temporale, sondern der inter-personale Aspekt im Vordergrund: die soziale Einbettung individuellen Handelns: „Men and women want respect, recognition, prestige, acceptance, and СКАЧАТЬ