Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie. Ingo Pies
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Название: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

Автор: Ingo Pies

Издательство: Bookwire

Жанр: Зарубежная деловая литература

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isbn: 9783846345757

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СКАЧАТЬ angesiedelt. Nach den neueren Theorieanpassungen gilt sie ihm nicht länger als eine Utopie, als ein realitätsfernes Ideal, sondern als eine regulative Idee, die in der Realität einen Ort finden (und anweisen) kann.[18] Zweitens: Als Bestandteil der öffentlichen Kultur kann – so Rawls (1992; S. 314, insbes. Fn. 23) – seine Gerechtigkeitskonzeption die stabilisierende Funktion |18|erfüllen, die historisch kontingente Entwicklung zum liberalen Verfassungsstaat als eine zivilisatorische Errungenschaft festzuschreiben und Sicherungen einzuführen, die es unmöglich oder zumindest unwahrscheinlich machen, hinter den einmal erreichten Standard zurückzufallen. Die durch die Gerechtigkeitsgrundsätze garantierten Grundfreiheiten werden von der politischen Tagesordnung genommen, sie sind dem tagespolitischen Diskurs entzogen und gelten schließlich als selbst-verständlich und also unabänderlich. Ein historisch kontingenter Zustand wird so auf Dauer gestellt, ein bloßer modus vivendi in einen übergreifenden Konsens transformiert und dadurch nachhaltig abgesichert.[19] Drittens: Der Stellenwert, den die neueren Schriften dem Faktum des Pluralismus einräumen, führt zu einem neuen Verständnis des Liberalismus, hinsichtlich dessen sich Rawls von so wichtigen Vorgängern wie Kant und Mill unterscheidet: Für Rawls (1992; S. 284) ist der Liberalismus als politischer Liberalismus nicht mehr ein „umfassendes Ideal“, insbesondere ist er nicht auf bestimmte Ideale wie etwa Autonomie oder Individualität festgelegt:

      „Das Fehlen einer Festlegung auf diese Ideale und ebenso auf jedes besondere umfassende Ideal ist wesentlich für den Liberalismus als einer politischen Lehre. Dies hat seinen Grund darin, dass jedes solche Ideal, wenn es als umfassendes Ideal verfolgt wird, mit anderen Konzeptionen des Guten und mit Formen des persönlichen, moralischen oder religiösen Lebens unvereinbar ist, die mit der Gerechtigkeit verträglich sind und die daher ihren Platz in einer demokratischen Gesellschaft haben.“

      Nach dem Ende des Kalten Krieges ist dies ein für die nunmehr anstehende Liberalismusdiskussion wegweisender Gedanke: Nach dem Ausfall des Sozialismus als einer ernstzunehmenden politischen Konzeption eröffnet sich die Möglichkeit, den Liberalismus nicht länger „als eine weitere sektiererische Lehre“ – so Rawls (1992; S. 185) – aufzufassen, sondern als eine Referenzposition, die quasi ‚über‘ den konfligierenden Idealen steht, deren Streit schlichtet und so in besonderer Weise zur Befriedung und konstruktiven Wendung demokratischer Politikprozesse beiträgt.[20]

      Vor diesem Hintergrund lässt sich der Ansatz von John Rawls einstufen als der Versuch, ein liberales (Selbst-)Verständnis der modernen Demokratie auf der Höhe der Zeit und ihrer Probleme zu formulieren. So betrachtet, handelt es sich um eines der anspruchsvollsten und interessantesten Gesprächsangebote, die den Sozialwissenschaften von Seiten der Philosophie im 20. Jahrhundert unterbreitet worden sind. Es gibt gute Gründe, sich auf ein solches Angebot einzulassen und eine Verständigung auch über Fachgrenzen hinweg zu (ver-)suchen: Gerade die Innovationen, die neuen inhaltlichen und methodischen Akzentsetzungen, die den Rawlsschen Ansatz für die Sozialwissenschaften so anschlussfähig machen, erfordern eine interdisziplinär ausgerichtete Forschungsdiskussion, um die in |19|diesen theoretischen Neuerungen liegende Herausforderung konstruktiv einordnen, angemessene Interpretationsmuster bereitstellen und insbesondere die zur Evaluierung des gesellschaftstheoretischen und gesellschaftspolitischen Gehalts erforderlichen Anschlussfragen formulieren zu können.

      5. Nachtrag 2016

      John Rawls eröffnet seine Gerechtigkeitstheorie mit einem ethischen Paukenschlag, indem er Gerechtigkeit als erste Tugend des Institutionensystems kennzeichnet. In der Tat: Was für eine Metapher! Nach traditionellem Verständnis ist Gerechtigkeit zwar durchaus eine Tugend, aber als solche auf Handlungen bezogen, auf Handlungsdispositionen, auf den Charakter einer handelnden Person und schließlich auf die ganze Person selbst. Tugend ist ein individualethisches Konzept. Daher fällt es zunächst einmal schwer, sich vorstellen zu können, dass neben Personen auch Institutionen, also Regelarrangements, Tugenden aufweisen können. Aber genau darum geht es Rawls: Er lenkt den Tugendbegriff von Handlungen und Handlungsgesinnungen auf die institutionellen Handlungsbedingungen der Gesellschaftsordnung – mit folgender Pointe: „Die Art und Weise, wie wir über Fairness im Alltag denken, ist eine schlechte Vorbereitung für den großen Perspektivenwechsel, der erforderlich ist, wenn die Gerechtigkeit der [institutionellen; I.P.] Grundstruktur selbst betrachtet werden soll.“[21] Das bedeutet: Als Bürger eines demokratisch verfassten Gemeinwesens benötigen wir eine theoretisch fundierte Orientierungshilfe, wenn wir den Ebenenwechsel vollziehen wollen, der darin besteht, den öffentlichen Gerechtigkeitsdiskurs von Personen auf Institutionen umzulenken. Die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie ist der Versuch, eine solche Orientierungshilfe anzubieten – und zugleich die Zweckmäßigkeitskriterien auszuweisen, an denen gemessen diese Orientierungshilfe extrem leistungsfähig zu sein beansprucht. Rawls geht es um nichts Geringeres als darum, mit seiner Theorie einen wissenschaftlichen Beitrag zur Befriedung gesellschaftlicher Konflikte zu leisten, indem er eine Verständigungsbasis verfügbar macht, die den Verfassungskonsens der modernen Gesellschaft zu stabilisieren hilft. Deshalb bemüht er sich um eine größtmögliche Transparenz seiner Theoriebildungsentscheidungen: Für seine Leser soll nachvollziehbar und einsichtig sein, warum er bestimmte Annahmen so und nicht anders trifft. Die Transparenz der Theoriebildungsentscheidungen ist so gesehen ein konstitutiver Bestandteil des von Rawls intendierten Aufklärungsbeitrags.

      Besonders interessant daran ist nun der Umstand, dass Rawls in seinen Schriften zum politischen Liberalismus seiner Gerechtigkeitstheorie eine weitere Annahme hinzufügt, die so folgenreich ist, dass er sich gezwungen sieht, sein gesamtes Theoriegebäude daraufhin umzubauen. Um dem Faktum des vernünftigen Pluralismus angemessen Rechnung zu tragen, ist zusätzlich zum Ebenenwechsel auch noch ein Kategorienwechsel erforderlich. Hierfür steht die programmatische Überschrift seines Aufsatzes „Political, not Metaphysical“ von 1985. Was ist damit gemeint?

      |20|Rawls gibt hierzu die Auskunft, dass sich sein Selbstverständnis des eigenen Theorieprogramms geändert habe, und zwar insofern, als er mit seiner Gerechtigkeitstheorie nicht länger Moralphilosophie, sondern politische Philosophie betreiben wolle. Der Sache nach geht es Rawls darum, eine grundlegende Distinktion zwischen Individualethik und Institutionenethik zu markieren: In einer liberalen Gesellschaft kann ich im Rahmen der geltenden Gesetze mein Leben so leben, wie ich es will – (a) ohne die von mir gewählte Konzeption des Guten, den von mir eingeschlagenen Lebensweg und die hierbei erworbenen Tugenden für alle anderen Bürger einsichtig und zustimmungsfähig machen zu müssen, aber (b) auch ohne die Hoffnung, dies für alle anderen einsichtig und zustimmungsfähig machen zu können. Deshalb haben individualethische Argumente für oder gegen einen bestimmten moralischen Lebensentwurf eine völlig andere Qualität – sie sind auch völlig anderen Anforderungen unterworfen – als institutionenethische Argumente, die in einem politischen Diskurs vorgebracht werden, um Regeln oder Prinzipien für Regeln vorzuschlagen, die nicht nur für mich, sondern auch für alle anderen Verbindlichkeit beanspruchen. Institutionenethische Argumente unterliegen einer wesentlich größeren Rechtfertigungspflicht, aber auch einer wesentlich größeren Rechtfertigungsfähigkeit. Man kann es auch so ausdrücken: Während ein moralischer Konsens (im Sinne einer Einigung auf eine für alle verbindliche Konzeption des Guten) angesichts des Pluralismusfaktums unmöglich und damit letztlich auch verzichtbar geworden ist, ist es durchaus möglich – und unverzichtbar nötig! –, einen politischen Konsens zu erzielen und zu stabilisieren (im Sinne einer Einigung auf eine für alle verbindliche Institutionenstruktur, die alternative Konzeptionen des Guten friedlich koexistieren lässt). Regeln sind kollektiv verbindlich – Konzeptionen des Guten sind es nicht. Deshalb gelten für institutionenethische Argumente andere – d.h. strengere! – diskursive Anforderungen als für individualethische Argumente. Für letztere reicht es aus, dass sie eine – unter Umständen sehr kleine – Teilgruppe der Gesellschaft überzeugen; für erstere hingegen ist es nötig, dass sie einen Konsens aller Bürger herstellen. Deshalb reduziert Rawls den moralischen (= individualethischen) Gehalt seiner Gerechtigkeitstheorie auf ein Minimum und stärkt stattdessen ihren politischen (= institutionenethischen) Gehalt, indem er mit seiner Wende zum politischen Liberalismus die Gerechtigkeitstheorie auf Regeln und Prinzipien fokussiert, die für die Anhänger unterschiedlicher Konzeptionen des Guten gleichermaßen zustimmungsfähig СКАЧАТЬ