Mein großes Geheimnis. Buzz Bissinger
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Название: Mein großes Geheimnis

Автор: Buzz Bissinger

Издательство: Bookwire

Жанр: Изобразительное искусство, фотография

Серия: Fernsehen

isbn: 9783854456377

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СКАЧАТЬ „Bruce kommt in der Schule nicht gut zurecht. Er möchte Akkordeonspielen lernen, und wir würden ihn gern unterstützen, damit er auch mal ein Erfolgserlebnis hat.“ Da wusste ich schon, worauf das hinauslief. Es war nicht mehr lange hin bis Weihnachten. Und dann kam es auch schon: „Weißt du, wir haben ja nicht so viel Geld, und deswegen haben wir uns gefragt, ob du wohl auch mit einem kleineren Weihnachtsgeschenk zufrieden wärst in diesem Jahr, damit wir ein paar hundert Dollar für das Akkordeon ausgeben können.“ Ich war die Älteste. Ich hatte nie etwas verkehrt gemacht. In mir schrie eine Stimme: „Verdammt, nein.“ Aber zu meinen Eltern sagte ich ergeben: „Okay.“ Bis heute hasse ich den Klang eines Akkordeons. Für mich klingt es, als ob man mit den Fingernägeln über eine Tafel kratzt. Und dann musste ich ihm dauernd beim Üben zuhören.

      Anfangs war es grausam, und jeder Ton klang, als ob jemand röchelnd starb. Aber ich hatte einen guten Lehrer und blieb bei der Stange. Und schließlich gab ich ein richtiges Konzert in meiner Pfadfinderuniform. Dieser Augenblick wurde zu einem echten Wendepunkt, denn da begriff ich: Wenn ich wirklich etwas will, dann kann ich das auch schaffen. Dann gibt es Dinge, in denen ich richtig gut sein kann. Doch in dieser Zeit, Ende der Fünfziger und Anfang der Sechziger, eroberte der Rock’n’Roll die Welt – Elvis, Jerry Lee Lewis, Chuck Berry und natürlich die Beatles. Von denen hätte sich keiner mit einem Akkordeon erwischen lassen. Während Beat und Rock angesagt waren, spielte ich Wummta-Volkslieder und machte Musik, mit der ich langfristig höchstens auf Polka-Veranstaltungen landen konnte. Irgendwann traute ich mich schon gar nicht mehr zuzugeben, dass ich Akkordeon spielte, aus Angst, es würden sich wieder alle über mich lustig machen. Und deswegen hörte ich dann doch irgendwann damit auf.

      Wie gesagt, es gibt für alles im Leben einen Grund. Gottes Hand lenkt dich in Richtungen, die du sonst niemals in Erwägung ziehen würdest, und bedient sich dafür im Zweifelsfall sogar eines Akkordeons. Wenn ich jetzt zurückblicke, bin ich sogar ganz glücklich, dass ich nicht Gitarre gelernt habe. Der wäre ich wegen des Coolness-Faktors sicher länger treu geblieben und ich hätte mich wohl zumindest während meiner High-School-Zeit intensiv damit beschäftigt, sie richtig gut zu beherrschen. Dann wäre die Gitarre meine Berufung geworden.

      Aber als ich das Akkordeon aufgab und beschloss, es nicht weiter mit Musik zu versuchen, musste ich eine andere Möglichkeit finden, um mich auszuleben. Und die rettete mir das Leben.

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      Ortstermin in Vista, Kalifornien. Ich bin hier, um mich mit einem Elternpaar zu treffen, dessen Transgender-Sohn sich im Teenageralter umgebracht hat, weil er in der Schule und in den sozialen Medien gemobbt und drangsaliert wurde und zudem eine schwere Depression hatte.

      Ich versuche mir auszumalen, welche Qualen er durchlitten hat, aber ich kann es nicht. Er war vierzehn Jahre alt. Vierzehn. Auch den Schmerz seiner Eltern und seiner Schwester kann ich mir nicht annähernd wirklich vorstellen.

      Zugegeben, die ersten Monate nach der Transition habe ich in Wolkenkuckucksheim gelebt. Die Euphorie über die Verwandlung in Caitlyn erfüllte mich so sehr, dass ich die massiven Probleme unserer Community zuerst gar nicht wahrnahm. Dann begann ich, mich mit Studien zu beschäftigen. Zahlen zeigen aber nur, was ist. Sie verraten gar nichts.

      Erst wenn man einer Mutter in die Augen sieht, deren Transgender-Sohn Selbstmord begangen hat, wenn man hört, wie sie sich fragt, was sie hätte anders machen können, obwohl es da nichts gibt – dann versteht man, dass die Transition nicht nur den Betreffenden selbst verändert, sondern die ganze Familie. Das Alter der Person, die eine Transition hinter sich hat, spielt keine Rolle, denn das Schicksal kann in jedem Alter zuschlagen. Und obwohl das Thema inzwischen stark ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist, haben wir trotzdem noch einen Marathon zurückzulegen, und ich glaube nicht, dass wir noch zu meinen Lebzeiten ans Ziel kommen werden.

      Deswegen will ich jenen zuhören, die das Schicksal wirklich hart getroffen hat. Dazu gehört auch, ihnen zu sagen, dass es mir leid tut, obwohl dieser Ausdruck so hohl klingt. Ich muss meine eigenen Tränen vergießen. Aber all das stärkt meine Überzeugung, dass etwas getan werden muss.

      In Vista begrüßen mich Katharine und Carl Prescott. Ihr Sohn Kyler hat sich am 18. Mai 2015 im Badezimmer seines Elternhauses selbst getötet. Seiner Mutter zufolge waren es nicht nur die Depression und das andauernde Cyber-Mobbing, die ihm das Leben zur Hölle machten, sondern auch Erwachsene, die sich weigerten, Kyler zu akzeptieren oder ihn mit dem richtigen Pronomen anzusprechen, obwohl er seinen Namen und seinen Personenstand bereits offiziell hatte ändern lassen.

      Transgender im Teenageralter machen mir die meisten Sorgen, obwohl ich in letzter Zeit viele Förderprogramme für Kinder und Jugendliche, die genderqueer, gender-nonkonform oder transgender sind, besucht habe, die mir immer wieder Auftrieb geben. Aber die Sorgen bleiben.

      Ein Blick in die Statistik zeigt es: Einer aktuellen Studie zufolge denken 51 Prozent aller Transgender-Jugendlichen über Selbstmord nach, und 30 Prozent haben zugegeben, es bereits versucht zu haben. Die Lesbian-Gay-Bisexual-Transgender-Queer-Community (LGBTQ) hat schon immer wenig Unterstützung erfahren, und durch Cybermobbing haben sich die Probleme zusätzlich verschärft. Heute ist es noch schlimmer als früher, als Jungen und Mädchen irgendwo zusammen vor dem Klassenzimmer standen und über einen Mitschüler lästerten. Heute können sich Feiglinge hinter der Anonymität des Internets verstecken, aber die verletzenden und gehässigen Worte, die online gepostet werden, verschwinden niemals. Mein eigener Instagram-Account ist bereits ein schönes Beispiel: Wenn man sich die Kommentare dort ansieht, erkennt man, wieviel Bösartigkeit und Hass es in der Welt gibt. Wann immer ich etwas Positives über die Trans-Community schreibe, hagelt es sofort unbegreifliche Kommentare von transphoben, homophoben und rassistischen Usern.

      Kyler hatte unglaublich viel Mut. Aber Mut allein reicht nicht. Erwachsene müssen dafür sorgen, dass Toleranz gelebt wird. Sobald irgendwo in einem sozialen Netzwerk gemobbt wird, stehen die Betreiber in der Pflicht, nicht nur die Postings sofort zu entfernen, sondern auch den Urheber auf der Stelle zu sperren. Die Verbreitung von Hass hat nichts mit freier Meinungsäußerung zu tun. Hier geht es um die Freiheit der Wahl, um Selbstentfaltung und möglicherweise auch darum, Selbsttötungen zu verhindern.

      „Es gibt nichts Schlimmeres, als das eigene Kind zu verlieren. Gar nichts“, sagte Katharine Prescott in einem Interview der New York Daily News. „Kyler war der liebste und sanfteste Mensch überhaupt. Er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Das einzige Wesen, das er verletzen konnte, war er selbst. Und wenn ich auch nur einer einzigen Familie helfen kann, einem einzigen anderen Transgender-Kid wie Kyler, dann will ich das tun – denn das muss aufhören.“

      Katherine Prescott zeigt mir Fotos von Kyler. Sie erzählt mir, wie gern er Klavier gespielt hat. Sie zeigt mir ein Gedicht, dass Kyler über die Transition geschrieben hat. Sie redet voller Leidenschaft und Ergriffenheit, wie man sie nur spürt, wenn man an vorderster Front steht. „Ich habe gedacht, ich hätte alles Menschenmögliche getan, um seine Gender-Identität offen anzunehmen … aber mein Kind hat trotzdem Selbstmord gemacht, und ich tue mich sehr schwer damit, weil es mir so ungerecht erscheint.“

      Später nehme ich mit der Familie und Kylers Freunden an einer Gedenkfeier teil, die an einem nahegelegenen Strand stattfindet, und wir lassen ihm zu Ehren Ballons aufsteigen. Die Kids stellen mir Fragen, wie ich das schon bei anderen Gelegenheiten erlebt habe, in Dubuque oder Brooklyn oder San Francisco. Ich antworte nach bestem Wissen und Gewissen und versichere ihnen: So schwer sie auch mit den verschiedensten Problemen kämpfen mögen, es wird nach und nach besser werden, egal, worum es sich handelt. Das mag sich abgedroschen anhören, aber ich glaube aufrichtig daran, dass es stimmt, solange Jugendliche Liebe und Unterstützung erfahren.

      Wir müssen mehr tun. Ich muss mehr tun. Es ist ja nett, bei einer Oscar-Party mit Lady Gaga zu feiern, und ich bin sehr froh, dass sie meine Transition öffentlich СКАЧАТЬ