Mein großes Geheimnis. Buzz Bissinger
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Название: Mein großes Geheimnis

Автор: Buzz Bissinger

Издательство: Bookwire

Жанр: Изобразительное искусство, фотография

Серия: Fernsehen

isbn: 9783854456377

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СКАЧАТЬ Minuten hinsetzte und mich in der Schule irgendwie durchmogelte, damit ich in den Sportmannschaften bleiben konnte.

      Dabei war ich selbst stets distanziert und wenig „greifbar“. Ich war zwar da, aber auch wieder nicht, und echte Gefühle machten mir Angst. Mehr als nur meine Oberfläche wollte ich niemandem zeigen, denn darunter lauerte ein Verlangen, das gleichzeitig verlockend, verstörend und verwirrend war. Ich war überhaupt nicht mit mir im Reinen, und durch meine massive Lese- und Rechtschreibschwäche wurden meine Versagensängste immer größer. Dann blieb ich in der zweiten Klasse auch noch sitzen und musste ein Jahr wiederholen. Meine Mutter ging regelmäßig zu den Elternsprechtagen und versuchte herauszufinden, wo das Problem lag. Aber an der Schule interessierte sich niemand dafür oder hätte auch nur im Entferntesten an eine Diagnose wie Legasthenie gedacht, eine Beeinträchtigung, von der man in meinem Umfeld damals noch nie etwas gehört hatte (ebenso wenig wie von vielen anderen Dingen). Erst in der Junior High erwähnte ein Schulberater einmal dieses Wort, schickte mich aber nach zehn Minuten zurück in die Klasse. Und so blieben dann zwei große Komplexe in meiner Kindheit und Jugend unerkannt: die Legasthenie und meine Geschlechtszugehörigkeit.

      Die Lehrer hielten mich einfach für dumm. Oder für faul. Zwar tat ich mein Bestes, mich bei ihnen einzuschmeicheln und immer nett und freundlich zu sein, aber das änderte nichts an ihrem Urteil. Ich gruselte mich vor der Schule, weil ich ständig fürchtete, dass ich beim Lesen an die Reihe käme und mich dann wieder alle auslachen würden.

      Und dann war da noch etwas anderes.

      Ich war ungefähr zehn. Eine unwiderstehliche Neugier hatte mich gepackt.

      Das, was mich so magisch anzog, lag in unserer Wohnung im ersten Stock in Sleepy Hollow Gardens, einem weitläufigen Komplex aus robusten, einfachen Rotklinkerhäusern am südlichen Rand von Tarrytown am Ende der Tappan Zee Bridge, die während des Aufschwungs der Nachkriegszeit gebaut worden war.

      Das fragliche Objekt war der begehbare Kleiderschrank meiner Mutter.

      Ich war zu jung, um auch nur ansatzweise zu erfassen, wieso ich von seinem Inhalt so fasziniert war. Heute weiß ich, dass das grundlegend mit meiner Gender-Identität zu tun hatte, aber damals fragte ich mich, ob ich vielleicht einfach nur so sein wollte wie Pam. Dass ich sie vergötterte, führte vielleicht dazu, dass ich neidisch auf sie war und sie in allem nachahmen wollte. Ganz offensichtlich suchte ich für mich selbst nach Erklärungen für meine Empfindungen. Klar war aber nur eins: Der Kleiderschrank zog mich magisch an, und das Gefühl verschwand nicht.

      Wenn ich meiner Neugier nachgab, ging ich möglichst schlau vor. Ich wartete, bis ich sicher sein konnte, dass meine Eltern und meine Schwester längere Zeit außer Haus waren. Dann schob ich die weißen Schiebetüren aus Furnierholz auf und betrat den begehbaren Schrank. Er war klein, wie die ganze Wohnung, die nur zwei Schlafzimmer hatte; die meisten Mahlzeiten nahmen wir an einem Tisch in der Küche ein. Eines der Zimmer, das in der Mitte eine Trennwand hatte, teilte ich mir mit meiner Schwester.

      Der Schrank meiner Mutter war, wie gesagt, nicht groß, aber auf mich wirkte er riesig. Neugierig betrachtete ich die Kleider, die Röcke und die Schuhe. Ich strich mit der Hand über die Stoffe, um die Unterschiede zwischen Wolle und Baumwolle zu ertasten. Vorsichtig sah ich mich um und versicherte mich, dass ich noch allein war. Nein, in der Wohnung war nichts zu hören. Dann nahm ich ein Kleid von der Stange und markierte mit einem Stück Papier genau die Stelle, an der es gehangen hatte, damit ich keine Spuren hinterließ. Aus einer Kommode holte ich ein Halstuch und prägte mir genau ein, wie es gefaltet war.

      Wie den meisten zehnjährigen Jungen in den Fünfzigerjahren hatte man auch mir den typischen Bürstenhaarschnitt von einem halben Millimeter Länge verpasst, und Perücken besaß meine Mutter nicht. Also nahm ich das Tuch, schlang es mir um den Kopf und machte unter dem Kinn einen Knoten, damit es wie eine Perücke aussah. Die Schuhe meiner Mutter waren mir zu groß, also stieg ich in die meiner Schwester. Wahrscheinlich leierte ich sie ein wenig aus, aber das beunruhigte mich nicht weiter: Nicht einmal die schlaue Pam würde deswegen Verdacht schöpfen. Dann probierte ich den Lippenstift meiner Mutter aus. Falls sie da etwas merkte und ich irgendwie in die Sache hineingezogen werden sollte, hatte ich mir schon eine Erklärung zurechtgelegt:

      Den hat Pam geklaut.

      Es war die erste von vielen tausend Ausreden, die ich mir für den Fall überlegte, dass ich erwischt wurde.

      Ich guckte in den Spiegel. Schon damals spürte ich dasselbe Gefühl von Freiheit, das mich später in den Hotelzimmern und Lobbys überkommen sollte. Das Gefühl, dass das hier irgendwie einfach richtig war. Aber ich konnte niemandem davon erzählen, und so verstärkte das nur die Einsamkeit und Isolation, die ich ohnehin schon empfand. Schon mit zehn Jahren war mein Leben ein versiegeltes Kästchen, dessen Seitenwände im Laufe der Jahre immer höher und höher werden sollten, bis sie sich gar nicht mehr überwinden ließen.

      Nur im Schrank zu stehen reichte nicht. Ich musste noch mehr unternehmen. Vorsichtig schlich ich mich aus der Wohnung und achtete darauf, dass mich niemand sah. Es war dunkel; am hellichten Tag hätte ich mir das nie getraut. Draußen ging ich die Straße hinunter, einmal um den Block und einen Hügel hinauf, dann rannte ich wieder zurück zu unserer Wohnung. Die Möglichkeit für solche Aktionen gab es nur selten, vielleicht alle sechs Wochen einmal. Wenn ich draußen unterwegs war, begegnete ich keinem Menschen, nur einmal, als ich den Berg wieder herunterkam, fuhr ein Auto langsam hinter mir her. Ich trug mein niedliches Kleid und mein niedliches Kopftuch und spürte die Scheinwerfer auf meinem Körper. Aber dann fuhr der Wagen an mir vorbei.

      Ich war einfach damit durchgekommen.

      Ich weiß nicht, warum das alles so war. Es gab in dieser Zeit nur eine einzige Geschichte, die mir ein wenig weiterhelfen konnte, und das war die von Christine Jorgensen, einem ehemaligen US-Soldaten, der sich in Dänemark operieren ließ und als Frau zurückkehrte. Jorgensen wurde 1952 von der New York Daily News geoutet, und die ganze Welt war fasziniert – zum einen aus Sensationsgier, zum anderen weil es einen beeindruckenden Beweis des medizinischen Fortschritts darstellte. Ein Mann wurde zur Frau, das war wie das nächste Stadium nach Frankensteins Monster, anomal, abnorm, seltsam, verwegen. Insgeheim befeuerte diese Geschichte die Phantasie vieler Menschen, auch wenn sie das nie zugaben.

      Ich versuchte, alles über Jorgensen in die Finger zu bekommen. Aber ich war zu jung, um die richtige Verbindung zu meinen eigenen Gefühlen zu ziehen. Nur eins wusste ich: Es fühlte sich richtig an. Und zugleich falsch. Außerhalb der Schule hatte ich kein Leben, und die Schule war wegen meiner Legasthenie meist eine totale Katastrophe. Ständig und überall fühlte ich mich unbehaglich. Und dann zog ich auch noch die Kleider und Kopftücher meiner Mutter an. Mit noch nicht einmal elf Jahren.

      Und dann kam das Akkordeon ins Spiel.

      Abgesehen von den Schulfächern, die mir allesamt nicht lagen (mit Ausnahme von Mathe und technischem Zeichnen später auf der High School), hatte ich noch nie versucht, etwas zu lernen. Aber zwei Freunde von mir hatten eine kleine Band gegründet. Der eine spielte Gitarre, der andere Akkordeon. Etwas Cooleres als in einer Band zu sein, konnte ich mir nicht vorstellen. Aber als völlig uncooler Junge hatte ich von echter Coolness natürlich keine Ahnung. Beim Akkordeon gefielen mir die Knöpfe und die Art, wie man es ein- und ausatmen lässt, so wie ein pulsierendes Herz. Verglichen damit erschien mir die Gitarre mit ihren sechs Saiten eher öde. Mir war nicht klar, dass ich mit einem Akkordeon wahrscheinlich nur dann cool gewirkt hätte, wenn wir zufällig in Sizilien gelebt hätten.

      Jedenfalls erklärte ich meinen Eltern, dass ich Akkordeon spielen wolle. Eigentlich erwartete ich nicht, dass sie das als ein geeignetes Hobby für mich betrachteten. Aber sie freuten sich, dass ich überhaupt an irgendetwas Interesse zeigte, nachdem sie sich schon Sorgen gemacht hatten, weil ich so verschlossen war. Ein Akkordeon war aber teuer. Also gingen sie zu meiner Schwester Pam:

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