Название: Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3
Автор: Rudolf Walther
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Essay-Reihe
isbn: 9783944369082
isbn:
Die Jahre 1971/72 verhalfen den französischen Umweltbewegungen zu einem unerhörten Aufschwung und zu europaweiter Ausstrahlung. Ökologisch motivierter Protest formierte sich jedoch nicht nur auf dem Land und an Kraftwerk-Standorten, sondern auch in der Metropole. Im April 1972 – also eineinhalb Jahre vor dem Öl- und Benzinpreisschock vom Oktober 1973 – demonstrierten in Paris 10 000 Fahrradfahrer gegen die Verkehrs- und Energiepolitik. Einem entsprechenden Aufruf in Berlin folgten damals ganze 100 Leute.
Bei den Präsidentschaftswahlen 1974 einigte sich ein erheblicher Teil der Umweltgruppen darauf, einen eigenen Kandidaten zu präsentieren. Der damals Siebzigjährige Agronom René Dumont (1904-2001) erreichte zwar nur 1,32 Prozent oder 337 000 Stimmen, aber er machte durch sein Charisma und seine Anerkennung als Wissenschaftler ökologische Probleme in einem bislang unbekannten Ausmaß bekannt. Er trug bei seinen Auftritten nicht nur den legendären roten Rollkragenpullover, er verkörperte glaubhaft die Vision einer linken politischen Ökologie, die weit über den herkömmlichen Umwelt- und Naturschutz hinauswies: »Die politischen Bedingungen für einen wirklichen Wandel beginnen in Frankreich damit, dass die Interessierten selbst alle Probleme, die sie betreffen, in die Hand nehmen: Bildung, Selbstverwaltung von Unternehmen und Städten, Arbeitskämpfe, Kampf um die Lebensqualität.« Nach Dumonts Wahlkampf unter der Devise »Utopie oder Tod« rückte bei einer Mehrheit der Franzosen die Sorge um die Umweltverschmutzung erstmals an die erste Stelle der brennendsten Probleme – also vor Arbeitslosigkeit, Preisspirale und Armut. Im »Programme commun« (1972) von Sozialisten und Kommunisten beanspruchten Umweltprobleme eine einzige von 192 Seiten. Bei den Regierungsparteien sah es ähnlich aus.
1974 verbündeten sich Atomkraftgegner aus Frankreich, Baden und der Schweiz in ihrem Kampf gegen die am Rhein geplanten Kraftwerkprojekte in Fessenheim, Wyhl und Kaiseraugst. Im Elsass nahm die Bewegung gegen das in Marckholsheim geplante Chemiewerk den Charakter eines regionalen Aufstands an. Nach mehrwöchiger Besetzung des Bauplatzes wurde das Projekt fallen gelassen. Während die Sensibilität der Franzosen für Umweltprobleme zwischen 1971 und 1977 ständig stieg, sank die Zustimmung zur Nuklearenergie im gleichen Zeitraum um 34 Prozentpunkte.
»Der Kreuzzug nach Malville« östlich von Lyon, wo seit 1975 der schnelle Brüter »Superphénix« gebaut wurde, bildete den Höhepunkt und zugleich das vorläufige Ende der Protestwelle der 70er Jahre in Frankreich, denn ein Jahr nach der spektakulären Demonstration am 31.7.1977 ließ sich »keine einzige bedeutende Aktion der Protestbewegung ausmachen« (Alain Touraine). An jenem regnerischen Sommertag versammelten sich rund 60 000 Atomkraftgegner aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz rund um Malville. Sie wurden von der französischen Polizei mit äußerster Härte zurückgedrängt. Der Physiklehrer Vital Michalon kam bei diesen Auseinandersetzungen ums Leben, mehrere Demonstranten und Polizisten wurden erheblich verletzt. Der Superphénix lieferte nur während zehn Monaten Strom, kostete etwa 20 Milliarden Franken und wird nun mit großem Aufwand definitiv stillgelegt.
Die teilweise hysterische Reaktion der Öffentlichkeit auf die möglichen Auswirkungen der Öl- und Benzinpreiskrise erleichterte die »zivile Nuklearisierung der Energieversorgung« (Guillaume Sainteny) und stabilisierte deren bröckelnde Akzeptanz bei den Bürgern. Die Ökologiebewegungen gerieten Ende der 70er Jahre in die Defensive und rieben sich in Fraktionskämpfen auf. André Gorz warnte die Ökologiebewegungen vor dem »Eindimensionalwerden« als Parteien, die »nicht mehr Protest, Revolte und Unzufriedenheit jeglicher Art politisch übersetzen«, sondern nur noch »die Staatsmacht« bzw. Regierungsbeteiligung im Auge haben. Gorz’ Absage an vermeintliche Real- und die Parteipolitik überhaupt war kein Ausdruck von »Apolitismus, sondern die Weigerung, die Freiheit des Ausdrucks, des Protests und der Phantasie den Erfordernissen der Machtlogik unterzuordnen.«
6 Volksfront in Frankreich (1936/37)
Die Wahlkämpfer in Hessen und Hamburg belebten alte Gespenster und Kampfbegriffe: »Linksfront«, »Volksfront«, »Einheitsfront« und »Linksblock«. Was sie damit meinten, blieb unklar. Das war schon einmal so. Mitte der 70er Jahre fühlten sich Christdemokraten von Strauss und Dregger bis zu Kohl von »Volksfronten« eingekesselt. »Volksfronten«? Jede sah anders aus. Oder was verbindet den »historischen Kompromiss«, den italienische Christdemokraten und Kommunisten planten, mit dem »gemeinsamen Programm« von Sozialisten und Kommunisten in Frankreich? Und worin glich die etwas ältere Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur »Einheitsfront« bzw. zur »Sozialistischen Einheitspartei« in der DDR mit dem Vorhaben in Spanien, nach Francos Tod ein Bündnis von den Kommunisten bis zu den Monarchisten zusammenzubringen? Ins rhetorische Wahlkampfreservoir passen die Krawallwörter »Front«, »Volk«, »Block« und »Links«, die das Publikum abschrecken sollen wie Vogelscheuchen auf dem Acker die Vögel.
Die Allensbacher Demoskopen haben 1976, als das Volksfront-Gespenst herumgeisterte, das Publikum befragt, was »Volksfront« bedeute. Sie bekamen eigenwillige Antworten: Fast ein Drittel wusste mit dem Wort gar nichts anzufangen. Fünf Prozent verwechselten es mit Hitlers »Volkssturm«, sechs Prozent hielten es für eine militärische Taktik und drei Prozent für etwas Ähnliches wie die Ernteschlacht an der Kartoffelfront in der DDR.
Ebenfalls 1976 diskutierten linke Intellektuelle im »Kursbuch« Nummer 46 über die Aussichten von Volksfronten. In einem täuschten sie sich nicht: Der Ausdruck »Volksfront« (französisch »Front populaire«) ist so schillernd und situationsabhängig, dass er gar nicht verallgemeinerungsfähig ist. Entweder der Begriff verkleidet bloße Parteiinteressen als »Volksinteressen« oder er versucht, »die nationalen Unterschiede zugunsten einer übergreifenden Strategie hinwegzurationalisieren« (Harald Wieser/Rainer Traub).
Wenn es auch keine Theorie »der« Volksfront geben kann, weil die Unterschiede viel größer sind als formale Ähnlichkeiten, so regierte in Frankreich in den dreißiger Jahren doch für kurze Zeit die Volksfront, d. h. eine Dreierkoalition aus Kommunisten, Sozialisten und Radikalsozialisten, wobei diese weder radikal noch sozialistisch waren, sondern bürgerlich in der jakobinisch-republikanischen Tradition. Und die »Radikalen« waren keine Partei, sondern ein locker organisierter Honoratiorenverein.
Weder der Beginn der französischen Volksfront noch deren Ende sind eindeutig zu datieren, denn so langsam, wie man ab 1934 in sie hineinschlidderte, so sachte entschlief sie 1938. Die Regierungszeit der Volksfront dauerte gut ein Jahr vom 4.6.1936 bis zum 21.6.1937.
Sie ist ein Produkt der Weltwirtschaftskrise von 1929. Wie alle Volkswirtschaften wurde auch die französische hart getroffen. Aber im Unterschied zu den USA, wo Franklin D. Roosevelt die Reformpolitik des »New Deal« einführte, und auch im Unterschied zu England, wo die Regierung von James Ramsay MacDonald – mit Sondervollmachten ausgestattet – Land und Wirtschaft sanierte, fand die in Frankreich seit 1926 regierende »Union nationale« keinen Ausweg aus der Krise. Diese Koalition aus Republikanern, gemäßigten Rechten und Radikalen verlor bei den Wahlen 1932 ihre Mehrheit. In dem Maße wie die Honoratiorenparteien ohne Rückhalt im Volk an Ansehen verloren, bekamen die rechtsradikalen Bünde und Ligen (»Action Française«, »Croix de feu«, »Jeunesses patriotes«, »Solidarité française«) enormen Zulauf.
Im Dezember 1933 wurden eine Finanzaffäre und die wahrscheinliche Verwicklung von Politikern darin ruchbar. Der hauptbeschuldigte Finanzjongleur Alexandre Stavisky kam unter ungeklärten Umständen ums Leben. Als der mit Stavisky befreundete Polizeipräsident entlassen wurde, zogen am 6.2.1934 bewaffnete Rechtsradikale auf die СКАЧАТЬ