Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3. Rudolf Walther
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Название: Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3

Автор: Rudolf Walther

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Essay-Reihe

isbn: 9783944369082

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СКАЧАТЬ heute 4000 dazugebaut. 1996 waren es rund 12 000 Kilometer.

      1985 prognostizierte eine Shell-Studie für das Jahr 2000 30 Millionen Kraftfahrzeuge in der Bundesrepublik. Die Zahl wurde bereits 1990 überschritten, 1995 gab es bereits 38 Millionen, man wird sich am Ende dieses Jahres »nur« um etwa 40% verrechnet haben. Solche Prognosen ignorieren die schlichte Tatsache, dass mehr Straßen sicher nur eines garantieren – mehr Verkehr, und die Prognosen kaschieren ihre Chaosblindheit mit hemmungslosem Fortschrittstaumel oder forschen Forderungen. Auf dem »Stuttgarter Straßentag« 1964 verkündete der mit dem Zug angereiste ADAC-Präsident Hans Bretz, »dass wir heute (…) sehen können, wie dieses 20. Jahrhundert daran geht, alle Menschheitsträume in technischer Hinsicht zu vollenden.« Entsprechend zackig trat ein weniger prominenter Redner auf: »Eine Straße, die den Namen Autobahn verdienen will, ist heute nur mit drei Fahrspuren und einer Abstellspur in jeder Fahrtrichtung denkbar.« Es war die Zeit, als in der Schweiz, wo der Autobahnbau später begonnen hatte, Wohnungsinserate erschienen, in denen Käufer mit dem Hinweis »freier Blick auf die Autobahn« angelockt wurden.

      Zwischen 1986 und 1994 wurden 1,4 Milliarden DM allein für das Forschungsprogramm »Prometheus« (wörtlich: der Vorausdenkende) aufgebracht; ein Programm, mit dem man »das Auto und die Straße intelligent« machen und »per Bordcomputer am Stau vorbei« leiten möchte. Der Appell an den unverschämten Feuerdieb, dessen Name für »Program of an European Traffic with Highest Efficiency and Unpreadented Safety« steht, wirkt wie ein Schrei aus dem stockdunklen Wald, in den man mittlerweile geraten ist. Nun soll es der Titan in letzter Minute richten. Mit branchentypischem Schwung meldet die Auto-Lobby schon einmal einen Investitionsbedarf von 190 Milliarden Mark bis ins Jahr 2010 an.

      Wo sich Prognosen über die Verkehrsentwicklung und Hausmittel zur Abhilfe gegen »Verkehrsstockungen« gleichermaßen diskreditiert haben, müssen Ideologie und Propaganda aushelfen. Die Zeitschrift »Motorwelt« drohte der Bundesregierung schon 1950 – als die wenigsten Menschen ein Auto besaßen und der ADAC 60 000 Mitglieder hatte (sehr viele ohne eigenes Auto!) – mit einer »blutigen Revolution« im Namen des »kraftfahrfreundlichen deutschen Volkes«, wenn die Regierung weiterhin »die nichtdeutsche Erfindung der Schienenbahn« gegenüber dem Straßenverkehr bevorzuge. Während des Kalten Krieges rückten Autobahn und Motorisierung zu Synonymen für Unabhängigkeit und Freiheit auf, bei Werner Mackenroth, einem Vorstandsmitglied der »Deutschen Straßenliga«, wuchsen sie zu »elementaren Naturgewalten. Selbst in Notzeiten, wenn Menschen nicht mehr Wein, sondern Wasser trinken und statt Kuchen Brot essen, werden sie Automobil fahren.« Für die ADAC-»Motorwelt« war »unser Automobil« schon 1948 »ein kleines Haus auf Rädern, (…) ein Heim, in dem wir uns viele Stunden des Tages aufhalten«. Eugen Diesel, ein Sohn des Erfinders des Diesel-Motors, ging 1956 ins Grundsätzliche: »Wir sind nun einmal – sehen wir es getrost biologisch – durch eine Symbiose mit dem Automobil zu Lebewesen geworden, die auf Räder gesetzt sind.« Prälat Caspar Schulte war 1958 »als Christ unterwegs« auf deutschen Autobahnen und bog ab ins Theologische: Er erklärte »Auto und Motor« zu »Helfern des großen Menschseins«, die Christen obendrein zu »Optimisten des Autos«. Jeder Tote auf der Autobahn, hupt ein anderer frommer Autor der automobilen Gemeinde ins Ohr, ist auch »ein Glockenklingen aus der Ewigkeit«. Amen. An diese »Bruderschaft der Straße« dürfte wohl auch der ehemalige Verkehrsminister Matthias Wissmann (CDU) gedacht haben, als er 1995 von der Pächterin einer Raststätte als der »Mutter der Autobahn« in der »Autobahnfamilie« sprach. Das Ende der Bescherung?

       2 1902: Beginn der Trennung von Kirche und Staat in Frankreich

      Im Februar 1906 herrschten im nördlichen und nordwestlichen Frankreich bürgerkriegsähnliche Zustände, in deren Verlauf im flandrischen Städtchen Boeschèpe ein Mensch ums Leben kam. Die Bauern und kleinen Leute griffen zu Gabeln, Sensen, Pickeln und ähnlichem Gerät, um »ihre« Kirche vor den staatlichen Steuereinnehmern zu schützen. Diese sollten die Kirchengüter inventarisieren, um sie danach zu sozialisieren. Genau genommen tobten damals zwei Kriege gleichzeitig: jener gegen die Erfassung der Kunstwerke und »die Öffnung der Tabernakel«, der Schreine, in denen die Hostie aufbewahrt wurde, sowie jener »zwischen Priestern und Lehrern«, die um die Seelen und Köpfe der Kinder fochten. Das Land erlebte die dramatische Endphase der Trennung von Kirche und Staat – eines unerbittlichen Kampfes, der im 18. Jahrhundert mit Voltaire und der Aufklärung begann, und im Mai 1902 mit der von Émile Combes (1835-1921) geführten Regierung dem Höhepunkt zutrieb. Das Jahr 1902 war das Schlüsseljahr, das direkt auf die rechtliche Trennung von Kirche und Staat drei Jahre später vorauswies.

      Die Gegner von Combes Regierung bezeichneten diese als Herrschaft des »Antiklerikalismus«. Dieser Neologismus schloss sich an das 1852 erstmals nachgewiesene Adjektiv »antiklerikal« an. Combes selbst und seine Leute verstanden sich als Laizisten und ihr Programm war die laizistische Republik. Mit der Revolution von 1789 und ihrem Laizismus bekam die Religion den Status einer Privatsache. Das Individuum konnte sich aus vielerlei traditionalen Bindungen – darunter jene an die Religion – befreien. Naserümpfend halten hierzulande viele Laizismus für einen Anachronismus, doch an der Pariser Sorbonne existiert auch heute noch ein Lehrstuhl für »Geschichte und Soziologie der Laizität«.

      Mit seinem zornigen »écrasez l’infame superstition!« (»rottet den niederträchtigen Aberglauben aus!«) reagierte schon Voltaire auf die Gängelung der Menschen durch die staatliche Zensur unter dem Ancien Régime, klagte aber auch die Institution Kirche an. Diese hatte zum Beispiel einen maßgeblichen Anteil daran, dass Jean François La Barre so lange gefoltert wurde, bis er gestand, gottlose Lieder gesungen, ein Kruzifix zerstört und bei einer Prozession den Hut aufbehalten zu haben. Zur Strafe für diese »Albernheiten« (Denis Diderot) schnitt man ihm am 28.2.1766 zuerst die Zunge und dann den Kopf ab, bevor der Restkörper verbrannt wurde.

      Die Exzesse während der revolutionären Entchristianisierung (1793/94) sind nicht zuletzt auch Reaktionen auf solche Erfahrungen unter dem Ancien Régime. Bereits 1795 kehrten viele der durch die Revolution vertriebenen Priester zurück, und die Kirche erhielt wieder volle Bewegungsfreiheit. Napoleon schloss 1801 mit Papst Pius VII. ein Konkordat, dem ein Jahr später die »organischen Artikel« folgten, mit denen Kirche und Staat nach dem Zerfall des Staatskirchentums und der revolutionären Enteignung der Kirche einen Weg zu friedlicher Koexistenz fanden. Der beiderseits ungeliebte Kompromiss zwischen »dem freien und dem katholischen Frankreich«, wie sich der Schöpfer des »Code Napoléon« – Jean-Étienne-Marie Portalis – 1802 ausdrückte, hielt bis 1905.

      Zwar scheiterten in der Zeit der Restauration die Bemühungen, im Geiste des konterrevolutionären Traditionalismus von Louis de Bonald (1754-1840) und Joseph de Maistre (1753-1821) »die Revolution (zu) töten« und die vorrevolutionären Verhältnisse wiederherzustellen, aber der hohe Klerus errang dennoch wieder eine dominierende Stellung, die er auch unter Louis-Philippes Bürgerkönigtum zu verteidigen vermochte. Nach 1830 begann »die Zeit der Ordensgemeinschaften« (Denis Pelletier): Bis 1880 wurden nicht weniger als 400 neue Gemeinschaften gegründet, die etwa 180 000 Mitglieder besaßen – rund zehnmal so viele wie 1808. Die meisten Kleriker waren als Lehrer tätig. Die Mädchenausbildung lag fast vollständig in der Hand von Nonnen. Im Zweiten Kaiserreich (1851-1870) Napoleons III. galt eine Schulsatzung, der zufolge es die erste Pflicht der Lehrer war, »die Kinder religiös zu unterweisen«. Von daher erklärt sich die republikanische Gegenparole: »Schreiben, lesen, rechnen, das ist alles, was man lernen muss«, meinte Adolphe Thiers.

      Die Haltung Napoleons III. zur Kirche war eher taktischer Natur, obwohl er sich zeitweise überlegte, sich in der Kathedrale von Reims kirchlich zum Kaiser salben zu lassen. Ein Fanal setzte jedoch seine fromme Frau, die den Papst als Patenonkel des Thronfolgers gewann. Beim hohen Klerus galt der Staatsstreich vom 2.9.1851 schon zwei Wochen danach als »Staatsstreich Gottes«. An die Stelle des alten Bundes von »Thron und Altar« trat nun jener von »Säbelherrschaft und Weihwasserwedel«, d. h. »die fürchterliche Allianz zwischen jenen, die niederkartätschen und jenen, die Kartätschen segnen«, wie Léon Gambetta, der Verkünder der Republik von 1870, sagte.

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